Urlaub in der Heimat ist ein zweischneidiges Schwert: Auf der einen Seite steht der Besuch in das Land, wo man geboren wurde und das es die Heimat bleiben wird, egal wie lange man im Ausland lebt. Und auf der anderen Seite ist es der zwangsläufige Vergleich mit der zweiten Heimat und die Defizite, die das kritisch gewordene Auge auf Schritt und Tritt feststellt. So kann der Urlaub schön und zugleich etwas frustrierend werden
Endlich Urlaub, in der Heimat. Davon habe ich, ein so genannter Auslandsgrieche, viele Jahre schon geträumt. Und als es dann soweit war, konnte ich die Heimat nur noch mit den Augen sehen, die sich in den vielen Jahren Deutschland an anderen Verhältnissen gewöhnt hatten: Städtebau, Landschaftplanung, Ordnung, alles ist in der Heimat anders, nur besser ist nichts. Lediglich die Natur außerhalb meschlicher Anwesenheit ist schön geblieben, sonst sieht die Heimat recht „unzivilisiert“ aus, die Landsleute haben in ihrer Raffgier alles zerstört, was ursprünglich schön da war, sie haben sich Land illegal angeeignet, Häuser und Städte anarchisch gebaut, sie kümmern sich einen Dreck um Recht und Ordnung. Und der Staat duldet nolens volens dieses zur Tradition gewordene laissez faire, denn er ist nicht in der Lage, seine eigenen Gesetze durchzusetzen oder die Übel- und Straftäter zur Rechenschaft zu ziehen. Das kann einem den Heimaturlaub ganz schön vermiesen, es sei denn, man kann die Augen davor verschließen und einen „normalen“ Urlaub machen. Wenn man es kann.
10. September 2007
Unser Zielort ist Keramoti, ein kleines Hafenstädtchen in der Nähe der nordgriechischen Stadt Kavala. Keramoti ist bekannt für seinen Spargel, der in Deutschland zuerst auf den Markt kommt, für seine Muschelnzucht und für eine gut organisierte Fischerei, die die näheren Provinzstädte mit Fisch versorgt. Das Städtchen liegt am Delta vom Fluss Nestos, der seinen Badestrand im Laufe der Jahre mit einem für griechische Verhältnisse außerordentlich feinen Sand bereichert hat. Zwischen Keramoti und der gegenüber liegenden Insel Thassos verkehren im Sommer halbstündlich moderne Fährschiffe, halbstündlich fahren auch Busse, die es mit Kavala oder Xanthi verbinden.
Vom Flieger, der zum Landeanflug auf den Flughafen von Thessaloniki ansetzt, kann man jetzt die dreifingerige Chalkidiki sehen, eigentlich eine schöne Landschaft, der aber in den letzten Jahren gierige Menschen übel zugerichtet haben: Sie haben die Wälder abgeholzt, um wegen der EU-Subventionen Ackerland daraus zu machen und ein paar Jahre später als Bauland zu verkaufen, haben überall und illegal Häuser gebaut, Anarchie im wahrsten Sinne des Wortes. Denn Griechenland ist das einzige Land in Europa, das nicht über ein Κτηματολογιο, ein Grundbuch verfügt, das Amt, das von der ehemaligen sozialistischen PASOK-Regierung zu diesem Zweck geschaffen wurde, hat in den vergangenen dreißig Jahren mehr als zwei Milliarden EU-Euro verbraten und gerade mal 3 Prozent der Landesfläche kartographiert. So kann heute noch jeder mit dem entsprechenden Bakschisch aus Waldgebieten Ackerland machen, soviel er verkraften kann, nicht nur auf der Ebene, sondern auch oben auf den Bergen, wo man die kahlen Stellen sehen kann, die wie Glatzen den Wald verunstalten. So wurde aus der früher wunderbar bewaldeten Chalkidiki ein Ödland, kein Baum, kaum ein Strauch sind aus der Höhe zu entdecken, die einzelnen Ackerfelder, ohne jeden grünen Rain, sind kaum auseinander zu halten.
Dann rollt der Flieger auf die Piste und kommt schnell zum Stillstand. Ich bin in der Heimat, ein schwer zu beschreibendes Gefühl, bin wieder im Land, wo ich geboren wurde und meine ersten Jahre gelebt habe, Gefühle und Erinnerungen werden wach, die Luft, die ich zuerst eingeatmet, die Gerichte, die ich gekostet, die ersten Bekanntschaften und Freundschaften, die ich gemacht, die ersten Freuden und Leiden, die ich erlebt habe, alles geht blitzschnell duch Kopf und Bauch. Draußen ist es warm, es ist diese griechische Wärme, die man spürt, wenn man aus dem Flieger rauskommt, warm, auch wenn es Winter ist, ich bin in der Heimat.
Ankunftshalle, das Förderband setzt sich mit einem Ruck in Bewegung. In der Halle ist es laut, es wird stark geraucht, obwohl die Stewardess im Flugzeug gesagt hatte, dass Rauchen nur in gesonderten Bereichen des Flughafengebäudes erlaubt ist. Auf die Passagiere, mehrheitlich Griechen, hat es offensichtlich keinen Eindruck gemacht, sie sind hier zu Hause und setzen, wie es in Griechenland üblich ist, selbst die Regeln. Dann kommen die Gepäckstücke zum Vorschein und wir eilen in Richtung Ausgang.
Wir wollen in Thessaloniki übernachten und am nächsten Tag nach Keramoti fahren, haben ein Zimmer im Hotel „Tobacco House“ gebucht. Der Bus, der uns in die Stadt bringt, ist voll, die Leute unruhig, wie im Flughafen, viele stehen im Gang, voluminöse Koffer versperren die Ein- und Ausgänge. Merkwürdig, wie sich die Menschen ändern können, es sind ja dieselben Leute, die kaum ein paar Stunden vorher, in Deutschland, den braven Bürger spielten. Aussteigen an der Aristotelous-Straße, das „Tobacco House“ liegt einige Straßen weiter, sollte leicht zu erreichen sein, ist aber nicht, denn das Ziehen der Trolleys auf den Bürgersteigen ist keine einfache Sache, das Wort Bürgersteig hat hier nur eine euphemistische Bedeutung, denn Löcher und Lücken durch fehlende Platten, Periptera, wie die unzähligen Verkaufskioske heißen, vor allem aber die bis zur Hauswand parkenden Autos machen sie schier unpassierbar. Einen Ausweg bietet die Fahrbahn und das ist gefährlich, weil die griechischen Autofahrer keine große Rücksicht auf menschliche „Hindernisse“ nehmen. Fußgänger haben es in Thessaloniki, wie in jeder anderen griechischen Stadt, nicht leicht, denn sie sind einfach nicht vorgesehen.
Die Übernachtung im „Tobacco Road“ kostet im Doppelbettzimmer 90 Euro. Die Zimmer sind geräumig und recht ordentlich, das Hotel, ein ehemaliges Καπνομαγαζο, ein Tabakverarbeitungsbetrieb, wurde vor Kurzem umgebaut, es wird solide geführt und ist recht komfortabel, angenehm ist auch das Ambiente, die Wände, Innen und Außen, sind in den Farben reifer Tabakblätter gehalten, der Straßenlärm dringt nur sehr schwach rein. Sehr zu empfehlen.
11.09.07
Mit einem Taxi fahren wir zum neuen Busbahnhof, ein Rondell, in dessen Inneren 6-8 abfahrtbereite Busse mit laufenden Motoren bis zur Abfahrt stehen, die eine halbe Stunde dauern kann. Die Halle wird weder gelüftet, noch sind die Fenster geöffnet, die Reisenden, die auf ihren Bus warten, rauchen wie die Schlote, eine wahre Gaskammer. Weit und breit auch keine Uhr zu sehen, wenn man selbst keine hat, muss man zu den Schaltern am Eingang gehen und die Angestellten fragen, die nicht immer freundlich und auskunftbereit sind. Die Busse fahren aber erstaunlich pünktlich ab, nicht nur in Thessaloniki sondern in jeder Stadt und in jedem Dorf, hätte man den Griechen gar nicht zugetraut.
Fünf Minuten vor Abfahrt macht der Busfahrer die Türen auf, wir setzen uns auf die nummerierten Plätze und los geht es in Richtung Nord-Autobahn. Die Zubringer-Strassen sind neu und gut ausgebaut, weniger schön sind die Häuser rechts und links: Ohne Vorgarten oder Hof, ungepflegt, zwischen den engen Gassen parkende Autos, Autos bis zum Abwinken, eine Stadt, in der anstelle von Grün Autos stehen. Stadtplanung, genauso wie Grundbuch, sind im EU-Land Griechenland unbekannt, jeder baut, wo gerade ein Platz frei ist und so fühlt man sich in den Vororten von Thessaloniki eher in südamerikanischen Slums versetzt als in Europa. Dabei war Selanik, wie Thessaloniki zu osmanischen Zeiten hieß, bis 1912 die Großstadt im südlichen Balkan, eine blühende Handelsmetropole, Heimat bedeutender Staatsmänner wie Kemal Atatürk und Enver Hodscha. Sie war multiethnisch, multireligiös und multikulturell, verfügte über prachtvolle Gebäude, große Geschäftshäuser, Kirchen, Moscheen und Synagogen und die Juden, das vorherrschende Element der Stadt, hatten sie sogar für die Hauptstadt eines jüdischen Staates vorgesehen. Dann kam 1912 der Anschluss an Griechenland, Thessaloniki fiel aus ungeklärten Gründen einem katastrophalen Brand und danach einem anhaltenden Marasmus zum Opfer, aus dem es sich bis heute nicht erholt hat. Denn mit dem Anschluss und mit den gegen Norden gezogenen Staatsgrenzen der neuentstandenen Nationalstaaten hat die Stadt ihr Umland und ihre Märkte verloren, politische Entscheidungen wurden fortan nur noch in Athen gefallen, Selbständigkeit und Souveränität waren dahin. An die alte Metropole mit ihren prächtigen Gebäuden und ihrem geschäftigen Treiben erinnert heute nur noch ein Teil der Stadt im Zentrum zwischen der Egnatia Straße und dem Hafen. Was dazu gebaut wurde, ist griechisch und …schrecklich.
Wir sind auf der Autobahn, fahren Richtung Kavala, die Landschaft war schon mal schöner, ist aber von geldgierigen Menschen auf griechischer Art „kultiviert“ worden: Wohin man auch blickt verlassene, verfallende Bauten, in denen irgendwann mal etwas produziert wurde, bis die staatlichen Investitions-Zuschüsse aufgebraucht waren, ein Bild, das bis Kavala und Xanthi unverändert bleibt, Ergebnis griechischer Planlosigkeit, Unordnung und Anarchie und einer Wirtschaftspolitik, die von den jeweiligen Regierungen mit großem Trara als der Beginn der Industrialisierung gefeiert wurde. Neben den Ruinen auch Neubauten, einfache Hallen, wo meist etwas belangloses produziert oder montiert wird, dazwischen liegen gebliebene Baumaterialien und alte, schrottreife Maschinen jeder Art: Verrottende Lastwagen und Pkws, Schrott aus Westeuropa, den man hierher brachte – und als er nicht mehr zu gebrauchen war einfach liegen ließ, Griechenland als die Schrotthalde Europas. Trostlos auch das Bild des einmal riesigen Sees Koroneia zur Rechten, der bis vor einigen Jahren fischreich und die Heimat wichtiger Vogelpopulationen war, heute fast ausgetrocknet, sein Wasser von Tonnen von Pestiziden, von unbereinigten Abwässern der umliegenden Siedlungen und von der unkontrollierten Wasser-Entnahme der Bauern, die seine Ufer zum Ackerland machten, verschlammt und vergiftet, mit dem See sterben auch die letzten Vögel, scharenweise.
Zu den optischen „Genüssen“ kommen bald die Akustischen, denn auf einmal wird die Musik wahrnehmbar, die von keiner Busfahrt fehlen muss. Jammervolle „Τραγουδια“, wie die Lieder oder Schlager auf Griechisch heißen, wahre Tragödien, die ihrem Namen alle Ehre machen: Schluchzende, weinerliche Stimmen, die ihre Ausweglosigkeit beklagen, weil sie von dem oder der Geliebten verlassen wurden und sich nur noch den Tod wünschen oder die Herzlose anflehen, zurückzukommen, andere, die für ihr Unglück die kaltherzige Gesellschaft verantwortlich machen, iiiiii, aaaaa, jammern die Kehlkopfstimmen am Ende jeder Strophe, kaum auszuhalten. Und kaum zu glauben, dass sich das Volk der angeblich lebenslustigen Sirtaki-Tänzer tatsächlich ein Haufen manisch-depressiver Masochisten ist, nach Goethes Egmont „Himmelhoch jauchzend oder zum Tode betrübt“. Das Genre Lied, τραγουδι oder Schlager, der in der leichten Musik (!) Griechenlands vorherrscht, ist pechschwarz, kein Lichtblick ist im Tunnel der griechischen Seele auszumachen.
Nach dem Fluss Strymon (Struma) ist erstmal Schluss mit Autobahn, 30 Jahre PASOK-Regierung und Milliarden von EU-Geldern vermochten diese wichtige Verkehrsachse zwischen West- und Ostgriechenland nicht fertig zu stellen, das Geld versickerte in die Taschen inkompetenter und korrupter Politiker in Athen, jener Generation der ehemaligen Hitzköpfe des Athener Polytechnikums, die von der deutschen Welle, von westlichen Geheimdiensten und sogar von Günter Wallraff angestachelt wurden, gegen die Junta zu revoltieren und dann von Andreas Papandreou für seine Regierung rekrutiert wurden, wo sie als Minister zu Milliardären wurden. Die geplante Autobahn, mit einigen Fragmenten hier und da, blieb aber im selben Zustand wie von 60 Jahren. So biegt der Bus links ab und fährt über die alte Verbindungsstraße Thessaloniki-Kavala der ersten Generation – die zweite, am Meer entlang und wesentlich besser, wurde von der bösen Junta gebaut – an der Strasse der dritten Generation, die Autobahn, wird jetzt von der konservativen Regierung der Nea Dimokratia mit Hochdruck gearbeitet, sie soll 2008 fertig sein. Wir fahren über die Berge, die Fahrt ist schön, die Landschaft abwechslungsreich und wenn der Bus nicht alle paar hundert Meter halten würde, wäre es angenehmer, Dörfer und Landschaft sind hier, Gott sei Dank, noch nicht ganz der griechischen Moderne zum Opfer gefallen. Dann erreichen wir Kavala und müssen auf den Bus nach Chrissoupolis umsteigen, in Chrissoupolis noch einmal umsteigen und dann sind wir in Keramoti und ziehen die Trolleys zu den Bungalows „Aphroditi“, ein paar Meter vom Hafen entfernt. Die Apartments, fast am Meer, bestehen aus zwei geräumigen Zimmern, von denen das eine mit einer Küchenecke und mit allem, was man zum Kochen und Essen braucht ausgestattet ist, es gibt auch eine Loggia, aus der man durch Pinienbäume das blaue Meer und, direkt gegenüber, die Insel Thassos – und davor Thassopoula – sehen kann.
Keramoti ist nicht nur für sein Fisch und Spargel bekannt, es verfügt auch über einen wunderbaren Sandstrand, der aus der Erde entstanden ist, die der Fluss Nestos (rechts im Bild) aus den Bergen mitbringt, eine Wohltat für meine Füße, die ein ganzes Jahr in engen Schuhen schwitzen müssen, ich habe sie bei jeder Gelegenheit tief in diesen wunderbaren, warmen Sand gesteckt, eine wahre Heilkur. Das Wetter ist noch sommerlich, 26-28 Grad, das Meer lädt zum Baden ein, am Strand tummeln sich noch Touristen, viele Busse kommen aus Bulgarien, eine Übernachtung hier und am nächsten Tag fahren sie weiter nach Thassos. Gleich am selben Abend besuchen wir die Taverna „Γλαρος“, die „Möwe“ und feiern die Ankunft: Bei einem köstlichen Bauernsalat mit viel Schafskäse, gegrillten Sardellen, einer Melitzanosalata und einem Ouzaki aus der Region. Urlaub, endlich Urlaub.
12.-28.09.2007
Ein paar Tage später fahren wir mit dem Bus nach Xanthi, natürlich wieder mit Umsteigen in Chrissoupolis, der Bus fährt dann über Paradeisos, ein Ort am Fluss Nestos (Bild oben), der sehr beliebt als Rastplatz wegen seiner uralten Platanen, Feigen- und Quittenbäumen und seiner kristallklaren Wasser, die direkt aus der Quelle kommen ist, in denen wunderschöne Pflanzen gedeihen. Etwa ein Viertel Stunde später erreichen wir Xanthi, der Bus muss jetzt nur noch rechts einbiegen und dann wären wir im Busbahnhof, doch, Oweh, Oweh, genau um die Ecke und mitten auf der Straße haben ehemalige Χαμαληδες, Lastenträger, die früher Tabakballen auf dem Rücken trugen, ihr Büro, ein kleines Transportunternehmen aufgebaut und weil auch die gegenüber liegende Straßenseite von parkenden Autos besetzt ist, ist das Abbiegen keine einfache Sache, der Fahrer flucht, fährt mehrmals vor- und zurück und dann hat er die Kurve gekratzt, wir sind da.
Xanthi ist nicht mehr dieselbe Stadt geblieben, wie ich sie aus meiner Schulzeit kannte, eine Provinzstadt wie auf dem Ganzen Balkan, mit einem Zentrum, aus dem strahlenförmig vier oder fünf Strassen ausgingen, jede mit ihrem eigenen Gewerbe, hier die Blechschmiede, dort die Kleider- und Stoffhändler, da die Lebensmittelläden oder die Hut- und Schumacher. Das alles ist Geschichte, das Handwerk ist längst tot, gestorben an billigen Importen und ohne staatliche Unterstützung und Schützt. Das heutige Xanthi ist, wie in Kavala, Thessaloniki und jede andere griechische Stadt eine Kopie des Athener Chaos, das als Vorlage gedient hat: Wilde Bautätigkeit im Wohnungsbau, enge gebliebene, aber jetzt voll gestopfte Straßen, Autos, unpassierbare Bürgersteige, Lärm, Lärm, Lärm. Um der Πλατεια herum, dem Stadtzentrum, fließt im Kreisverkehr ein nie enden wollender Strom von Autos, es sollen, wie mir gesagt wurde, Studenten sein, die aus lauter Langeweile oder um Eindruck bei den Mädchen zu machen um den Platz herum fahren. Einfach so.
Die Stadt war in der Zwischenkriegszeit ein bedeutendes Zentrum der Tabakverarbeitung. In den zahlreichen, zum Teil größeren Καπνομαγαζα, den Tabakverarbeitungsbetrieben, wurde bis in die 60er Jahre der edle Orienttabak verarbeitet: Flinke Frauenhände sortierten die einzelnen Blätter in vier Kategorien, die über Förderbänder in den Keller gelangten, wo sie in Ballen für den Export gepresst wurden. Es gab auch eine Zigarettenfabrik, die die berühmte Zigarettenmarke Kireciler produzierte, die ist längt abgerissen. Heute wird nicht mehr soviel Tabak angebaut und wenn, dann wird er vom großen Werk der SEKE, der Agrargenossenschaft der Tabakproduzenten Griechenlands, benötigt, der eine Menge Zigaretten, auch für den Export produziert. Die Bauern auf der Ebene bauen lieber Baumwolle an, natürlich wegen der EU-Subventionen, die viel Wasser und noch mehr Dünger benötigt, zur großen Freude von BASF und Bayer. Wenn es dann regnet, kommt das Gift in die Seen und vergiftet die Fische. Wie im Koroneia-See.
Die Tabakverarbeitungsanlage der Firma Petridis ist eine der größten in Xanthi. Die Anlage wurde Ende des 19en Jahrhunderts vom US-Amerikanischen Tabakkonzert Glenn Tobacco Co großzügig und nach amerikanischen Plänen gebaut, zwei riesige Hallen im 90 Grad Winkel, dazwischen die Büros, das repräsentative Haus des Direktors, Garagen, Tennisplatz und ein riesiger Garten gehörten dazu. Nach dem Siegeszug der Baumwolle wurde der Tabakanbau eingeschränkt, die Anlage liegt seit Jahren still, der Garten im vorderen Teil wurde verkauft, an seiner Stelle wurden die in Griechenland üblichen Πολυκατοικιες, die griechischen Mehrfamilienhäuser gebaut. Das alte Bürogebäude ist eine Ruine, die stattlichen Hallen zerfallen, zerbrochene Fenster, fehlende, vermutlich geklaute Eisentore, die Mauern Drumherum zum Teil eingestürzt, ein trauriges Bild des Niedergangs, das sich in meinem Augen umso entsetzlicher präsentiert, als ich dort in den letzten Gymnasium-Klassen und während der Sommerferien im Keller gearbeitet hatte, habe Tabak in Ballen gepresst, war damals der Jüngste unter den männlichen Arbeitern. Neben Petridis arbeiteten mindestens 6-8 weitere Καπνομαγαζα, die heute geschlossen sind und vor sich hin verfallen. Ja, damals wurde gearbeitet, die Leute hatten ein Auskommen, heute erwarten sie alles vom Staat, Parasitismus hat sich in Griechenland breit gemacht. Und wenn ich mir die städtebaulich prächtige Petridis-Anlage ansehe, die immer mehr zerfällt, frage ich mich, weshalb sie nicht von der Stadt zu einem Universitätskampus umgebaut wurde, sondern für den Bedarf der Universität lauter neue Gebäude in der bekannten griechischen Bauweise errichtet wurden, die Anlage wäre bestimmt einer Universität würdig. Natürlich vergesse ich dabei, wie solche Vorhaben realisiert werden, an denen viele Politiker in Athen und in der Region eine Menge Geld verdienen.
Eine andere, nahe gelegene Anlage verrottet auch vor sich hin, der hintere Teil ist übersät von Müll und Unrat, mitten drin Hunde, die im Dreck liegen und Essensreste kauen, ein Bild des Grauens. Doch dann, ein paar Schritte weiter, oh Wunder, am alten SEKE-Tabakhaus wird gearbeitet, Arbeiter reparieren den vorderen Teil der Anlage, pinseln Mauern und Wände, da ist doch nicht alles tot. Geht man aber auf die Rückseite, die am Busbahnhof angrenzt, so sieht man, dass hier offensichtlich Potemkin Patte gestanden hat, denn die Ruine ist immer noch eine Ruine, dasselbe Bild, wie bei Petridis: Verlassene Räume, zerbrochene Fenster, Niedergang.
Zu meiner Zeit gab es in Xanthi auch zwei Hamams, die ich gern besucht hatte. Noch heute habe ich den Klang der blechernen Schüsseln in meinen Ohren, die wir für die Aufgüsse benutzten. Beide Hamams wurden abgerissen, an deren Stelle entstanden, ja was sonst, Πολυκατοικιες. Unweit der Πλατεια stand auch eine prächtige Cami, die wurde auch abgerissen, ein Sakrileg, weil Xanthi zur Hälfte von Muslimen bewohnt wird und eine politische Dummheit dazu, denn die in der Türkei tätigen Vereine der muslimischen West-Thrakier (Bati Trakya Türkleri) lassen in ihren Zeitschriften keine Gelegenheit entgehen, diese Freveltat den Griechen um die Ohren zu hauen. Eine andere Cami, etwas weiter, wurde, ebenfalls zur Zeit der Obristen, architektonisch „versteckt“, sie ließen um sie herum lauter Πολυκατοικιες bauen, damit sie nicht zu sehen ist.
Auch die Wassermühle am Fluss, an der die Bauern früher auf Eseln ihr Getreide zum mahlen brachten, wurde um dieselbe Zeit zerstört, an deren Stelle baute man die Karikatur einer Mykonos-Windmühle. Die Griechen behaupten, von den alten Griechen abzustammen, heute sind sie ein Haufen von Barbaren. Nicht sehr weit davon entfernt sieht man aber das Denkmal des Bürgermeisters Amoiridis, das an der Stelle steht, wo früher das Elektrizitätswerk stand, ein Bau im Stil Berliner Industriearchitektur. Amoiridis ließ es abreißen. Ich kann mich nicht beruhigen, bin stocksauer auf diese Leute, die sich so scheußlich an meiner Heimat vergangen haben, sie hat es wahrlich nicht verdient.
Xanthi ist eine Universitätsstadt. Genauer gesagt, einer Eindrittel-Universitätsstadt, denn das zweite Drittel befindet sich im benachbarten Komotini und das letzte Drittel in Alexandrupolis, jede dieser drei Hauptstädte Griechisch-Thrakiens, Sitz von Präfekturen, hat ihre eigene Universität. Denn sie hatten sich solange über den Sitz der Universität gestritten, bis die Regierung aus parteipolitischen Gründen diese in drei Teile zerlegte, jede mit einer eigenen Verwaltung usw. Die Studenten der Universität von Xanthi sitzen von morgens bis spät in die Nacht in voll gestopften Cafés, die in der Nähe der Universität gebaut wurden, zum Teil auf einer ehemaligen Parkanlage (auf einem anderen Teil derselben Parkanlage hatte die griechische Fremdenverkehrzentrale ein Tourismus-Hotel, „Xenia“, gebaut, das nach ein paar Betriebsjahren die Tore dichtmachte und seitdem als Ruine da steht). Die Studis trinken ihren Frappé, lassen sich von lauter Musik volldröhnen und sind sonst mit der Politik beschäftigt: Jede politische Partei hat ihre studentische Organisation, die an den Eingängen der Universitätsgebäude ihre Tische voll mit Propagandamaterial aufbaut und um Mitglieder wirbt. Außerdem sind die beiden linken Parteien, KKE und SYRIZA, dazu übergegangen, Netzwerke aufzubauen, in denen Studenten über Internet miteinander kommunizieren und ihre Proteste und Aktionen gegen das Establishment, das ist in Griechenland immer die Regierung, koordinieren. So haben sie das ganze letzte Jahr die Unis besetzt und waren nur noch auf den Straßen, um gegen einen Gesetzesentwurf der Regierung zu protestieren, der einige Reformen im heruntergekommenen Unibetrieb Griechenlands vorsahen, dann hatte die Regierung nachgegeben und den Gesetzesentwurf derart verwässert, dass alles beim Alten blieb. Unter den Umständen bedeutet ein Studium in Griechenland lediglich ein von dem Professor geschriebenes Buch auswendig zu lernen, an dem auch geprüft wird, ansonsten im Café sitzen und das Dolce far niente, das süße Leben genießen. Wenn sie dann mit dem Studium fertig sind, gehen sie auf die Straße und protestieren gegen die Arbeitslosigkeit und dafür, dass sie beim Staat angestellt werden, der Abschluss eines Studiums ist in Griechenland mit dem Anspruch auf eine Anstellung beim Staat verbunden, bei zehn Millionen Griechen sind 1,5 Millionen Staatsangestellte. Die Eltern ihrerseits betrachten es als ihre heilige Pflicht, ihrem Nachwuchs ein solches Studium zu ermöglichen, verbunden mit einem Auto und einem Handy, von denen sie auch eifrigen Gebrauch machen. Woher das Geld dazu kommt, ist mir ein Rätsel.
Wie durch ein Wunder ist ein Teil von Xanthi von der städtebaulichen Zerstörung verschont geblieben. Es ist die Altstadt am Hang der Rhodopen-Ausläufer, die ihre Rettung dem Einsatz meiner ehemaligen Schulkameraden verdankt. In der Altstadt gibt es kaum Autoverkehr – eine Wohltat, wenn man vom Tohuwabohu des Zentrums kommt – sie hat ihre alte Form beibehalten, es gibt zum Teil sehr schöne, alte Häuser wohlhabender Xanthioten, die allmählich restauriert werden. Oberhalb der Altstadt thronen die drei Klöster der Taxiarche, der Panagia Kalamu und der Panagia Archangeliotissa, dazwischen der Fluss Kossynthos, Karasu, Schwarzes Wasser, hieß er in osmanischen Zeiten. Zwanzig Kilometer südlich der Xanthi beginnt das Meer, zwanzig Kilometer nördlich, auf einer Höhe von etwa 1200 Metern, befindet sich das Waldgebiet der Haidu, zu erreichen über eine asphaltierte Straße über Stavrupolis, Dafnon und Kariofyto.
Haidu ist ein Urwald, der die größte biologische Vielfalt Europas beherbergt. Fast zwei Drittel aller Pflanzen- und Tierarten unseres Kontinents befinden sich in dieser Region, wo man nach dem mediterranen Teil auf der Ebene, im Sommer nicht selten mit 40 Grad Temperatur, sich in eine Art Nordschwarzwald oder Südskandinavien befindet, mindestens 10 Grad beträgt der Temperaturunterschied. Bären, Wölfe, Schakale, eine erstaunlich bunte Tierwelt, lebt hier oben inmitten von Eichen-, Ahorn-, Eschen-, Ulmen-, Buchen-, Kiefern-, Fichten- und Tannenbäumen. Eine Sehenswürdigkeit ist auch der tosende Wasserfall von Margaritis, der von immer mehr Touristen besucht wird. Nach dem steilen Abstieg und dem mühsamen Aufstieg sollte man nicht versäumen, die nahen Tavernen mit ihren lokalen Spezialitäten zu besuchen. Der Haidu-Gipfel in etwa 1200 Metern Höher ist ein Hochplateau, für den Wald ist es zu hoch, es gibt eine niedrige, sehr liebliche Vegetation, die Luft ist rein, vermischt mit dem zarten Duft der hier oben blühenden spärlichen Pflanzen. Jedes Mal, wenn ich da oben bin und die Weite herum betrachte, grün, solange der Blick reicht, überkommt mich ein Gefühl der Leichtigkeit des Seins, fühle mich, auch als ein Gottloser, näher an Gott, an den Gott Kosmos. Nicht umsonst haben die Alten den Orpheus mit seiner Lyra in dieser Landschaft gesetzt.
Zurück in Keramoti verging die Zeit mit weiteren Ausflügen in die nächste Umgebung wie im Fluge. Auf der Insel Thassos kann man die in Honig eingelegten Waldnüsse kaufen, eine Köstlichkeit, auch der Honig von Thassos ist sehr berühmt. Die letzten zwei Tage vor der Abreise verbrachten wir dann in Thessaloniki, das auch einiges zu bieten hat, zwar versteckt, aber wenn man sie entdeckt hat, ein Juwel: Die Rotunda, die Cami an der Egnatia Strasse, die nach Jahren, wo sie als Pornokino benützt wurde, endlich restauriert wird, der Hafen mit einem Café, von dem man auf die gesamte Front von Thessaloniki schauen kann.
Keramoti, mit seinem wunderbaren Sandstrand, dem Fischreichtum und mit den Möglichkeiten, die Insel Thassos, Kavala, Xanthi und die Haidu zu besuchen, ist und bleibt, trotz menschlicher Einflüsse, immer noch eine Reise Wert. Jedem Freund von Natur und multikultureller Gesellschaft im ursprünglichen Sinne zu empfehlen. Keramoti, wir kommen wieder.
Δρ. Εμμανουήλ Σαρίδης
4. November 2007
3 Comments
Ingrid sagt:
1. Februar 2016 um 18:57 Uhr
Ein wundervoll anschaulicher Bericht ueber Ihre Heimat und die Griechen.
Fuer mich, die ich nun 25 Jahre in Keramoti lebe, erstaunlich, dass ein Grieche genau das ausspricht, was mir so oft durch den Kopf geht.
Kritik, die ich mir als Deutsche nicht erlauben kann. Zu schnell wird mir geraten, doch wieder dahin zurueck zu gehen, woher ich komme.
Versuche, den Menschen hier die Augen zu oeffnen, was zu veraendern, fuer eine gemeinsame Sache zu kaempfen, scheitern leider immer noch.
Und trotzdem liebe ich meine „Wahlheimat“.
berlinathen sagt:
2. Februar 2016 um 10:22 Uhr
Liebe Ingrid,
Griechenland ist trotz allem schön und liebenswert, die Griechen umzuerziehen ein hoffnungsloses Unterfangen. Ich schreibe immer noch, seit Jahren allerdings fast nur noch auf Griechisch, weil ich denke, so könnte ich sie erreichen und etwas verändern. Erreichen konnte ich nur noch, Kontakte zu einigen Griechen zu machen und mit denen frei zu reden, d.h., nur in kleinen Gruppen kann man etwas erreichen, und das ist nicht wenig.
Nach Keramoti komme ich seit 1991, letztes Jahr war ich ihm allerdings untreu, fuhr mit meiner Lebensgefährtin nach Chalkidiki. Doch dieses Jahr bin ich wieder da, vom 17.05. bis zum 02.06.16, bei „Katerina“. Vielleicht sehen wir uns auf einen Wein.
Ingrid sagt:
2. Februar 2016 um 19:57 Uhr
Das waere schoen. Hab mir Ihren Reisetermin vermerkt. Sie duerfen auch gerne in der Taverne Akropolis fragen, Agapius der Besitzer hat meine Telefonnummer.