Die begleitete Ratspräsidentschaft

Bild: SRF; BRUU

Bulgarien gestaltet seine am Montag begonnene EU-Ratspräsidentschaft unter unmittelbarer „Beratung“ und „Begleitung“ aus Berlin.

 

Dies geht aus Berichten der Konrad-Adenauer-Stiftung (CDU) hervor, die entsprechende Tätigkeiten in Sofia entfaltet und ihren Ex-Vorsitzenden, den ehemaligen Präsidenten des Europaparlaments Hans Gert Pöttering, als Sonderberater in der bulgarischen Hauptstadt installiert hat. In Bulgarien haben sich seit dem EU-Beitritt des Landes am 1. Januar 2007 Oligarchen zum entscheidenden Machtfaktor entwickelt und kontrollieren, wie Beobachter urteilen, längst die Geschicke des Landes. Berlin dulde dies bereitwillig, da Ministerpräsident Bojko Borissow sich politisch umstandslos deutscher Führung unterordne, urteilt ein ehemaliger bulgarischer Justizminister. Gleichzeitig dient das bitter verarmte Land deutschen Firmen als Standort für konkurrenzlose Hungerlohnproduktion und dem deutschen Staat als Reservoir für Fachkräfte, die in die Bundesrepublik abgeworben werden.

Ohne Heizung, mangelernährt

Elf Jahre nach Bulgariens EU-Beitritt am 1. Januar 2007 sind die sozialen und politischen Verhältnisse in dem Land unverändert desolat. Laut Angaben der Statistikbehörde Eurostat waren im Jahr 2016 40,4 Prozent der 7,1 Millionen Einwohner – also rund drei Millionen Menschen – von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Beinahe ein Drittel der Bevölkerung – 31,9 Prozent – litt sogar unter erheblicher materieller Deprivation; dies bedeutet, dass zentrale Grundbedürfnisse wie angemessenes Beheizen der eigenen Wohnung nicht gedeckt, Alltagsgegenstände wie ein Telefon oder eine Waschmaschine nicht gekauft oder nicht genügend proteinhaltige Nahrungsmittel beschafft werden konnten.[1] Der bulgarische Mindestlohn ist inzwischen zwar auf rund 235 Euro angehoben worden, reicht aber immer noch nicht annähernd für ein menschenwürdiges Leben aus. Schockierend ist die Kinderarmut: 45,6 Prozent aller bulgarischen Kinder sind von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Eurostat zufolge ist vor allem die Lage der Unter-16-Jährigen katastrophal. Demnach besitzen 36,2 Prozent aller Einwohner Bulgariens unter 16 Jahren kein einziges neues Kleidungsstück, 48,6 Prozent verfügen über höchstens ein Paar gut passende Schuhe. 40 Prozent dieser Altersgruppe können es sich nicht leisten, einmal pro Tag frisches Obst oder frisches Gemüse zu essen; 42,4 Prozent nehmen, weil Fleisch und Fisch zu teuer sind, nicht genügend Proteine zu sich.

Schuften für Deutschland

Um dem Eindruck der Hoffnungslosigkeit entgegenzuwirken, die sich bei vielen im Land breit macht, verweisen bulgarische Politiker gern auf die vergleichsweise geringe Erwerbslosigkeit: Die Arbeitslosenquote liegt aktuell bei lediglich 6,1 Prozent – deutlich unter dem EU-Durchschnitt von 7,4 Prozent. Dies liegt allerdings nicht zuletzt daran, dass umfangreiche Teile der bulgarischen Erwerbsbevölkerung seit 1990 ausgewandert sind. So ist die Einwohnerzahl des Landes von 8,9 Millionen im Jahr 1990 auf kaum 7,1 Millionen im Jahr 2017 geschrumpft. Vor allem jüngere, gut ausgebildete Menschen haben das Land verlassen – in vielen Fällen mit Kurs auf Deutschland, wo Ende 2016 über 260.000 Bulgaren lebten. Unter anderem tragen mehr als 1.600 bulgarische Mediziner dazu bei, den Ärztemangel in der Bundesrepublik zu beheben.[2] Aus deutscher Perspektive besonders günstig ist daran, dass Berlin für ihre Ausbildung keinen Cent bezahlen musste; die Kosten für ihre – teuren – Medizin-Studienplätze hat Sofia gedeckt. Dasselbe trifft auf die Ausbildung zahlreicher weiterer in Deutschland tätiger bulgarischer Fachkräfte zu. Andere Bulgaren werden als ungelernte Kräfte unter zuweilen miserablen Arbeitsbedingungen zu teilweise illegalen Niedrigstlöhnen ausgebeutet.[3] Gleichzeitig hat sich die Bundesregierung im vergangenen Jahr bemüht, Rückflüsse nach Bulgarien zu verhindern – durch eine massive Kürzung des Kindergeldes für EU-Ausländer, darunter mehr als 5.500 Bulgaren. Der Versuch ist allerdings gescheitert – zumindest vorläufig.

Konkurrenzlose Hungerlöhne

Bulgarien dient der deutschen Wirtschaft nicht nur als Herkunftsland für billiges „Humankapital“, sondern in gewissem Maß auch als Absatzmarkt und als Standort für die Niedriglohnproduktion. 2016 verkauften deutsche Unternehmen Waren im Wert von knapp 3,5 Milliarden Euro in dem Land; das reichte zwar nur für Platz 45 auf der deutschen Exportrangliste – hinter Thailand, Israel und der Ukraine -, trug jedoch dazu bei, den deutschen Südosteuropahandel zu stabilisieren. Die Bundesrepublik ist größter Handelspartner Bulgariens und einer der wichtigsten, unter Berücksichtigung von Umweginvestitionen über die Niederlande oder über Österreich vermutlich sogar der bedeutendste der dortigen Auslandsinvestoren. Die Arbeitskosten in Bulgarien seien „die niedrigsten in der EU“, konstatiert die bundeseigene Außenwirtschaftsagentur Germany Trade & Invest (GTAI); die Lohn- und Lohnnebenkosten beliefen sich auf konkurrenzlose 4,4 Euro pro Stunde. Auch deshalb bleibe das Land „ein interessanter Produktionsstandort“.[4] Nicht zuletzt deutsche Bekleidungshersteller wie Hugo Boss profitieren von den bulgarischen Hungerlöhnen; rund 16 Prozent der deutschen Einfuhren aus Bulgarien bestehen mittlerweile aus Textilien. GTAI beklagt inzwischen allerdings einen spürbaren „Fachkräftemangel“ in Bulgarien – aufgrund der Auswanderung gut ausgebildeten Personals nicht zuletz in die Bundesrepublik.[5]

Die Ära der Oligarchen

Bleibt die soziale Lage in Bulgarien unter dem wirtschaftlichen Klammergriff Berlins und der EU desolat, so hat sich die politische Kontrolle der bulgarischen Oligarchen über das Land seit dem EU-Beitritt erheblich verstärkt; Experten sprechen mittlerweile von einer „Ära der Oligarchen“.[6] Zu den mächtigsten bulgarischen Oligarchen zählt der Unternehmer Deljan Peewski, der inzwischen unter anderem rund 80 Prozent des bulgarischen Printmedienmarktes beherrscht. Dem dominierenden Einfluss der Oligarchen schreiben Beobachter die Tatsache zu, dass Bulgarien auf dem Pressefreiheitsindex von „Reporter ohne Grenzen“ von Platz 51 (2007) auf Platz 109 (2017) abgestürzt ist.[7] Der Journalist Assen Jordanow, der sich auf Wirtschaftskriminalität spezialisiert hat, wirft sogar Staatspräsident Bojko Borissow eine tiefe Verwicklung in illegale Geschäfte vor: „Tatsächlich herrscht in Bulgarien eine neofeudalistische, oligarchische Mafia-Clique, die Schattenwirtschaft betreibt.“[8] Borissow, dessen Partei neben CDU und CSU der Europäischen Volkspartei (EVP) angehört, werde von Berlin und Brüssel – anders als die Machthaber in Ungarn und in Polen – umstandslos toleriert, weil er sich politisch unterordne, urteilt der bulgarische Ex-Justizminister (2014 bis 2016) Hristo Iwanow: „Wenn es in Brüssel ein Dossier gibt, und die Deutschen haben eine klare Position dazu, dann stimmen wir mit den Deutschen … . Andernfalls so, wie es die Kommission tut. Es gibt keine eigene bulgarische Position.“[9]

„Einigkeit macht stark“

Dies trifft offenkundig auch auf die bulgarische EU-Ratspräsidentschaft zu. Noch Anfang Oktober hatte der Projektleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung (FDP) für Südosteuropa geurteilt, Sofia bleibe bei den Vorbereitungen „weiter vage“ und nenne „verschiedenste Prioritäten ohne eine klare Linie“; „eigene[…] Projekte“ habe es bislang nicht vorgestellt.[10] Um die Planungen für die bulgarische Ratspräsidentschaft hat sich inzwischen die Konrad-Adenauer-Stiftung (CDU) bemüht und die Regierung von Ministerpräsident Borissow entsprechend „beraten“. „In gleicher Weise“ werde sie auch „die Ratspräsidentschaft begleiten“, teilt sie nun offiziell mit: „Eine wichtige Rolle wird dabei der [bis zum 31. Dezember 2017 amtierende, d. Red.] Vorsitzende der Stiftung und ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments, Dr. Hans Gert Pöttering, spielen, der im September 2017 von der bulgarischen Regierung in den Obersten Politischen Konsultationsrat berufen wurde.“[11] Die Themen, die Sofia jetzt präsentiert hat, entsprechen Berlins Zielen für die EU. Zum einen sollen Wege gefunden werden, die Union trotz der erstarkenden zentrifugalen Kräfte zusammenzuhalten, weshalb Bulgarien seine Ratspräsidentschaft unter das Motto „Einigkeit macht stark“ stellt. Zum anderen sollen die nicht der EU angehörenden Staaten des westlichen Balkans enger an die Union gebunden werden, um den rasch zunehmenden Einfluss Chinas in der Region zu kontern (german-foreign-policy.com berichtete [12]).

Auf dem Weg nach rechts

Dabei übernimmt nun in Kooperation mit der Konrad-Adenauer-Stiftung eine Regierung die EU-Ratspräsidentschaft, zu der ein Parteienbündnis der extremen Rechten gehört. Eine extrem rechte Partei gehört darüber hinaus der österreichischen Regierung an, die die Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2018 innehaben wird. german-foreign-policy.com berichtet in Kürze.

[1] eurostat pressemitteilung 155/2017. 16.10.2017. Eurostat definiert „erhebliche materielle Deprivation“ folgendermaßen: „Personen, die unter erheblicher materieller Deprivation leiden, leben unter Bedingungen, die durch fehlende Mittel eingeschränkt sind, und sind von mindestens 4 der folgenden 9 Deprivationskriterien betroffen: Sie sind nicht in der Lage, 1) die Miete/Hypothek oder Rechnungen für Versorgungsleistungen pünktlich zu bezahlen, 2) die Wohnung angemessen zu beheizen, 3) unerwartete Ausgaben zu tätigen, 4) jeden zweiten Tag Fleisch, Fisch oder ein Proteinäquivalent zu essen, 5) eine einwöchige Urlaubsreise zu machen, sich 6) ein Auto, 7) eine Waschmaschine, 8) einen Farbfernseher oder 9) ein Telefon (einschl. Mobiltelefon) leisten zu können“.

[2] Rainer Woratschka: Durch Zuwanderung deutlich mehr Ärzte in Deutschland. tagesspiegel.de 26.05.2017.

[3] Deutsche Arbeitgeber beuten EU-Ausländer aus. mdr.de 11.10.2017.

[4], [5] Michael Marks: Lohn- und Lohnnebenkosten – Bulgarien. gtai.de 22.05.2017.

[6] Stefan Antonov: The Age of the Oligarchs: How a group of political and economic magnates have taken control of Bulgaria. University of Oxford: Reuters Institute for the Study of Journalism. Oxford 2013.

[7] Barbara Oertel: „Ich würde Sie feuern“. taz.de 21.11.2017.

[8] Nina Flori: Ein Land in Oligarchen-Hand. wienerzeitung.at 22.03.2017.

[9] Markus Bernath: Bulgarien vor Beginn der EU-Ratspräsidentschaft im Zwielicht. derstandard.de 27.12.2017.

[10] Daniel Kaddik: Mangelnde Vorbereitung, fehlende Visionen. www.freiheit.org 02.10.2017. S. dazu Bulgariens europäischer Weg.

[11] Thorsten Geißler: „Einigkeit macht stark“. Bulgarien übernimmt am 1. Januar 2018 die Ratspräsidentschaft der Europäischen Union. Konrad-Adenauer-Stiftung, Länderbericht Bulgarien. Dezember 2017.

[12] S. dazu Berlin fordert „Ein-Europa-Politik“.

https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7491/

5. Januar 2018
Rubrik: Balkan/Osteuropa/Kaukasus

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert