Andere Zeiten, andere Sitten: Essen, Trinken und vieles mehr, alles in der Berliner U-Bahn
von Dr. Emmanuel Sarides
Diese Glosse habe ich im multikulti1.de am 01.10.2005 geschrieben, also vor sieben Jahren. In der Zwischenzeit ist alles um einen Zahn schärfer, d.h. schlimmer geworden: Berlin ist, vom Touristen-Zentrum mal abgesehen, eine dreckige Stadt geworden, in vielen Ecken stinkt es nach Kloake, sportliche Radfahrer fahren rücksichtslos und aggressiv auf Gehwegen, die Schlägereien in den U-Bahn Stationen nehmen zu, die Zahl der Kiffer und Fixer, die kaum mehr kontrolliert werden, ist in unbekannter Höhe gestiegen. Und die Berliner U-Bahn, von der hier die Rede ist, bleibt immer wieder stehen, technische Probleme, sagt man. Außerdem: Sprosse von saturierten Elternhäusern, mit reichlich Knete ausgestattet, strömen in die Stadt, machen Boutiquen, Ateliers, Kunstläden oder Musik- und Theater-Bühnen auf und treiben die Mieten in die Höhe. In einer Stadt, in der 19,2 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsquote liegt (2011). 175.000 Berliner Kinder und Jugendliche bis zu 17 Jahren leben in Hartz-IV-Haushalten, denen ein Regelsatz von 345 Euro zusteht, wie sollen sie die stets steigenden Mieten bezahlen? Ja, das Glitzerding Berlin ist, wie man sagt, die Hartz-IV-Kapitale geworden, hinter der Fassade steckt viel Armut, Elend und Kriminalität. Nun aber zu meiner Glosse von damals.
U7, zwischen Rathaus Neukölln und Mehringdamm. Die junge Frau, die mir gegenüber sitzt, etwa 16 Jahre alt und dem Äußeren nach aus dem Nahen Osten stammend, sieht „schick“ aus: Turnschuhe, knapper Pulli, enge Hose und eine schräg gesetzte Mütze auf dem Kopf, sie könnte glatt von einer X-beliebigen Schlager-Hupfdohle aus den Serien der „Volksempfänger“ Viva, MTV oder RTL geklont worden sein. Und wie ihre Vorbilder, ist sie die ganze Zeit am telefonieren. Mit einer Person, die sehr witzig sein muss, denn sie lacht immer wieder laut und scheint vergnügt und gut drauf zu sein. Zwischendurch nippt sie an einem Kaffeebecher, den sie mit der anderen Hand hält, die Szene könnte beim Big Brother nicht besser sein. Neben ihr die Freundin, eine Tüte Döner in der Hand, der ihr gut zu schmecken scheint, denn sie beisst immer wieder genüsslich rein, jedesmal wenn die Freundin auflacht, die Jogginghose ist schon voller Krümmeln.
Eine alltägliche Szene in der Berliner U-Bahn. Die nicht nur Esser und Trinker zu bieten hat. Von denen sogar manche ihr Frühstück dort zu nehmen pflegen, nachdem sie ihre mitgebrachten Stullen ausgepackt und den Kaffeebecher auf dem Schoss befestigt haben, den sie sich unterwegs organisiert haben. Da fällt nur noch das WC in einer Ecke, denn wo gegessen und getrunken, muss auch gepinkelt werden, doch wer weiß, vielleicht kommt es auch bald, der Fortschritt schreitet mit riesen Schritten voran. In der U-Bahn gibt es noch andere Typen, wie jene, die immer wieder, reflexartig, in Taschen und Rücksäcken greifen, um das lärmende Handy hervorzuholen und sich dann beim Anrufer zu erkundigen: „und, wo bist du? Ich bin jetzt in der U-Bahn sowieso“. So erfährt man nicht nur, worum es in diesem Gespräch geht, sondern auch wo man sich gerade befindet. Und den so genannten SMS-Junkies ist wiederum die Tastatur ihrer Handys am wichtigsten, bei manchen hat man den Eindruck, sie schreiben da ihre Memoiren, so konzentriert sind sie bei der Sache.
In der U-Bahn kann man aber auch noch Stephan sehen, von dem ich lange Zeit glaubte, er sei eine Frau, ein Geschöpf nur aus Haut und Knochen, dem die Springer-Tanten als „U-Bahn-Gespenst“ bezeichnet haben. Stephan verkauft philosophische, selbst verfasste Texte und bettelt um etwas Geld, „für’s Nichtsingen“.
Singen und musizieren tun umso mehr die Künstler aus Osteuropa, Kalinka, Pariser Chansons, Walzer, bis die Bahn an der nächsten Station hält. Und dann gibt es noch die Verkäufer von „Strassenfeger“ oder „Die Platte“, „guten Tag, entschuldigen Sie bitte für die Störung“, gefolgt von einer Erklärung über Sinn und Zweck des Zeitungsverkaufs.
Ich könnte hier von weiteren Attraktionen der Berliner U-Bahn erzählen, beispielsweise von den Angeboten der Berliner Fenster GmbH, die im Ferbruar 2005 schon zum vierten mal das Kurzfilmfestival „Going Underground“ organisiert hat. Auf deren Monitoren wir auch die neuesten „Nachrichten“ wahrnehmen, kurz, denn für mehr müssen wir die BZ kaufen, wo auch nicht viel mehr drin steht: Promi-Traumhochzeiten, Scheidungen, Schwangerschaften, Paris trennt sich von Paris, der BH von Britney Spears, den man bei einer Auktion erwerben kann, das arme koksende Model, echt zu bedauern, weil es keine Werbeagenturen mehr findet, wegen der Kokserei, alles Nachrichten von höchster Aktualität und so verdammt lebenswichtig für die vielen Hartz-IV Betroffenen, die ihre Hälse nach den Monitoren verdrehen. Da kommt Nostalgie auf, wenn ich an die einfachen Reklamesprüche der U-Bahn denke wie „ganz fürchterlich schimpft der Opapa, die Oma hat kein Pech-Brot da.“ Das war früher. Doch hier und heute möchte ich lieber einen Punkt machen und auf die beiden orientalischen Schönheiten zurück kommen, die die U-Bahn als den Ort ausgesucht haben, sich mit einem Handy und einem Pappbecher Kaffee in der Hand als schön, modern und kosmopolitisch zu outen. Und wozu ich zwei Anmerkungen machen möchte.
(Foto: Artur Lumen Gevorgyan)
Anmerkung Nummer Eins. Es ist nicht lange her, wo es in der U-Bahn Essen und Trinken gar nicht gestattet war. Ich kann mich an dem Spruch erinnern, der sogar mit einer witzigen Zeichnung versehen war, den genauen Wortlaut habe ich nicht mehr im Kopf, doch es ging darum, mit der Eistüte nicht U-Bahn zu fahren, da man damit andere bekleckern könnte. Heute macht es den Controllettis offensichtlich nichts aus, wenn einer mit dem Döner in der Hand krampfhaft mit der Anderen versucht, den Farschein aus der Tasche hervorzukrammen. Sind wir alle Prolis geworden? Ist die Anarchie ausgebrochen? Ich weiß nicht, woran das liegen könnte. Vielleicht liegt es an der Verdoppelung der Hauptstadt, an den locker gewordenen Sitten, am fehlenden Personal. Oder an uns Ausländern, die für diesen Misstand und Sittenverfall verantwortlich sind. An uns, die aus dem tiefen Osten, dem tiefen Süden, dem tiefen Südosten hergekommen sind und die U-Bahn für einen orientalischen Basar halten, die Strassen für die Wege in unserem Dorf, beim Wochenend-Einkauf besonders in Schöneberg, zwischen Kaiser-Wilhelm-Platz und Bülow Strasse oder in Kreuzberg, am Kottbusser Damm. Wo wir in zweiter Reihe parken oder die Bushaltestelle blockieren. Ist uns der Übergang von Kamel und Esel auf das Auto noch nicht ganz gelungen, konnten wir uns noch nicht anpassen? Fragen über Fragen.
Dazu gleich Anmerkung Nummer Zwei, betr. die Medien und deren Einfluß auf uns alle. Tatsächlich gab es noch nie so viel Schrott im TV zu sehen wie heute. Ich weiß, wie ich über die niedrige Qualität des US-Amerikanischen Fernsehens erstaunt war, als ich Mitte der 80er Jahre zum ersten mal nach New York kam. Wo das deutsche TV „erste Sahne“ war. Jetzt haben wir den ganzen Schund und Schwund auch hier, potentiert durch die deutschen Produktionen, die bemüht zu sein scheinen, die Amerikanischen an Dämmlichkeit zu übertreffen. Eine Lawine billiger Serien ergiesst sich täglich über die „mündigen Bürger“, Reality und Mittagssendungen, in denen es von herumhüpfenden Stars und Sternchen nur so wimmelt. Mit einer schrägen Mütze auf dem Kopf und einen Kaffeebecher oder einer Wasserflasche in der Hand. Und oft eine Knarre in der Anderen.
Genau das, was sich unsere beiden Schönheiten täglich „einziehen“, ein eigentlich junges, gesundes Volk, das aus den „rückständigen“ Regionen unserer globalisierten Welt zu uns gekommen ist, um an den Segnungen der Zivilisation teilzuhaben. Wozu zweifellos Glamour und hübsche Showgirls der TV-Sender gehören. Können sie sich nun diesen Vorbildern der Moderne entsagen? Und mit den überkommenen Vorstellungen ihrer patriarchalisch strukturierten Gesellschaft daheim auch hier, im Zentrum der Moderne, der Emanzipation und der Frauenrechte weiter leben? Niemals! Und dieser Eiertanz zwischen Moderne und Rückständigkeit ist nicht nur ein Frauenproblem, es trifft genauso auf die Jungs zu. Deren Vorbilder auch im TV zu suchen sind. „Leichen pflastern seinen Weg“, hieß der damalige „Filmklassiker“, der, wer hätte es gedacht, nach den Befreiungsaktionen der US-Amerikaner und deren Freunde in Afghanistan, in Jugoslawien und in dem Irak, verdammt modern und aktuell geworden ist. Brutalität, Mord, Raub, die einfach als Realität empfunden werden.
Jede Story endet mit einer Moral. Und die Moral von dieser Geschicht ist? Ja, was ist sie denn? Ich könnte hier etwas päpstlich aufbauendes von mir geben, doch ich halte es nicht mit der Bild-Zeitung, die behauptet: „wir sind Papst“. Lasse also das Ende offen. Open end, heisst es doch bei den Engländern und Amis. Wo, bekanntlich, all unsere Vorbilder her kommen.
Rubrik: Gesellschaft/Κοινωνια
von Dr. Emmanuel Sarides
17.09.12