Nichts ist gut in Griechenland. Ministerpräsident Alexis Tsipras rühmt sich für seine Reformen. In Wirklichkeit herrscht er weiterhin in einem System von Korruption und Misswirtschaft.
Budgetüberschüsse, Investitionen in Milliardenhöhe, eine florierende Wirtschaft: So oder so ähnlich sehen die Träume der griechischen Regierung aus, und vielleicht auch diejenigen so mancher Politiker in Brüssel. Griechenland, der acht Jahre lang am Tropf der Troika hängende Patient, steht nach ihren Wunschvorstellungen gesundet auf stählernen Füßen und Regierungschef Alexis Tsipras vor seiner dritten Amtszeit.
Langsam, aber stetig hat sich Griechenland demnach aus den Trümmern erhoben und ist zum wichtigsten Wirtschaftsstandort Südosteuropas aufgestiegen. Griechenland ist Europas Knotenpunkt für internationale Transportwege und Handelsströme, ein Zweig auf der neuen Seidenstraße, die China mit Europa und Afrika verbindet. Zugleich ist es die neue Energietrasse, über die Solarstrom und Gas aus dem östlichen Mittelmeer ins europäische Netz eingespeist werden. Alexis Tsipras hat das Land vom drohenden Grexit zum sauberen Exit aus den Hilfsprogrammen geführt. Was 2015 mit dem Wahlsieg der Parteien Syriza und Anel noch aussah wie ein Himmelfahrtskommando, ist eine Erfolgsgeschichte geworden.
So weit die Träume. Doch die Realität ist längst nicht so rosig, die Zukunft ungewiss und der Weg zur Normalisierung des ewig am Abgrund stehenden Landes holprig und lang.
Die Stunde Null
Ende März wurden noch einmal 6,7 Milliarden Euro nach Athen überwiesen. Im August endet das dritte Hilfspaket, das im Sommer 2015 nach nervenaufreibenden Verhandlungen beschlossen wurde. Nun bereitet sich die Athener Regierung auf die Stunde Null vor. Sie muss sich künftig selbst finanzieren.
Damit das gelingt, senden Athen und Brüssel in alle Richtungen Signale des Optimismus: Rückgang der Arbeitslosenrate um sechs Punkte auf zwanzig Prozent; 1,4 Prozent Wirtschaftswachstum für 2017 und geschätzte 2,5 Prozent für 2018; ein angepeilter Primärüberschuss im Staatshaushalt von 3,5 Prozent; Lockerung der Kapitalverkehrskontrollen; Umsetzung nahezu aller Reform- und Sparvorgaben; erfolgreicher Abschluss des laufenden Anpassungsprogramms; erfolgreiche Neuemissionen griechischer Obligationen; Aufwertung griechischer Staatsanleihen von B minus auf B mit der Aussicht auf weitere Heraufstufungen.
Was steckt hinter dieser Kette froher Botschaften, die Politiker nicht müde werden zu verkünden? Selbsthypnose? Durchhalteparolen?
Positive Ausblicke und gute Laune sind kein Garant für den Befreiungsschlag, den Alexis Tsipras unentwegt verspricht. Man werde Ende August die Schlüssel selbst wieder in die Hand nehmen und nicht mehr an Deutschlands Tisch sitzen. „Unser oberstes Ziel ist, die nationale Souveränität wiederzuerlangen. Die Zeit der griechischen Wirtschaft ist endlich gekommen“, erklärt der Premierminister.
Ein viertes Rettungsprogramm?
Zentralbankchef Giannis Stournaras, der in ökonomischen Fragen mit der Regierung selten übereinstimmt, plädiert dagegen für eine vorsorgliche, aus dem europäischen Rettungsfonds ESM finanzierte Kreditlinie für die Zeit nach Abschluss des dritten Kreditprogramms. „Dafür gibt es keinen Anlass“, erwidert Nikos Pappas, Telekommunikationsminister und enger Vertrauter des Premiers. Kein Wunder: ESM, Kreditlinie, das klingt nach einem vierten Rettungsprogramm, das niemand will. Nicht Brüssel, nicht Berlin, schon gar nicht die Regierung in Athen, die sich um ihre Wiederwahl im Herbst 2019 sorgt und dringend das Narrativ vom „sauberen Exit“ benötigt.
Alexis Tsipras ist fest entschlossen, in die Annalen der griechischen Geschichte einzugehen als jener Politiker, der das Land aus der Aufsicht seiner Gläubiger in die nationale Souveränität geführt hat. Einer vorbeugenden Kreditlinie wird er nicht zustimmen. Sie wäre ohnehin mit neuen Auflagen verbunden. Um dennoch eine Bruchlandung auf den Kapitalmärkten zu vermeiden, setzt Athen auf sogenannte „Cash-Buffer“, eine Art riesiges Sparschwein mit rund 19 Milliarden Euro, die das Land bis August zurücklegen will. Diese Reserve soll die launenhaften Kapitalmärkte in Schach halten und Investoren als Sicherheit dienen.
Erst kürzlich hat Alexis Tsipras in New York auf dem Forum „Invest in Greece“ erklärt, in Griechenland, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, stünden die Tore für hochprofitable Investitionen weit offen. Der Parteivorsitzende der Koalition der Radikalen Linken, kurz Syriza, sprach dort wie ein Investmentbanker. Doch warum sollten Anleger in Griechenland investieren? Weil sie Mutproben lieben? Weil sie mehr an die langfristige Lösung der griechischen Probleme glauben und weniger an schnelle Gewinne? Welches Unternehmen will in Griechenland investieren, wenn es an Planungs- und Rechtssicherheit fehlt, wenn der staatliche Verwaltungsapparat ineffizient und bestechlich ist? Wenn Ausschreibungen Jahre dauern, lang geplante Bauvorhaben plötzlich gekippt und Auflagen verschärft werden, weil irgendjemand über Nacht Bedenken anmeldet?
Widersprüchliche Überzeugungen
Tsipras braucht Investitionen, neue Arbeitsplätze und sprudelnde Staatseinnahmen. Er will sie. Zugleich will er den Staatsapparat nicht verschlanken, sondern ihn zu eigenen Zwecken mehren und Privatisierungen möglichst so lange verschleppen, bis die Anleger entnervt die Koffer packen. Wer George Orwells Roman „1984“ gelesen hat, kennt daraus „Doppeldenk“ – das Vermögen, zwei widersprüchliche Überzeugungen im Kopf zu haben und beide zugleich zu akzeptieren. Alexis Tsipras ist darin ein Meister.
Wer verstehen will, wie Privatisierungen in Griechenland ablaufen, werfe einen Blick auf Ellinikon, den ehemaligen internationalen Flughafen Athens. Das Stück Land in bester Lage, dreimal so groß wie das Fürstentum Monaco, liegt seit 2001 brach. Park, Museum, Kongresszentrum, Tourismusresort hätte es werden sollen. Pläne über Pläne. Doch das Staatseigentum gammelt immer noch vor sich hin. Keine Regierung packte das Projekt je an. Erst als Griechenland vor dem Bankrott stand, kam Bewegung auf, wenn auch im Schneckentempo und unter viel politischem Sperrfeuer aus Athen. Das Gelände wurde verkauft. Bald danach bremste die Denkmalschutzbehörde die Investoren schon wieder aus: Wer weiß, welche archäologischen Schätze im Untergrund liegen?
Stillstand herrscht auch bei der Modernisierung des Landes, und das seit Jahrzehnten. Während man sich in Europa mit den Herausforderungen der Digitalisierung befasst und über die Zukunft der Arbeitswelt und der Industrie diskutiert, drehte sich in Griechenland vor der Krise alles um Konsum. Jetzt dreht sich alles darum, das Verbliebene nicht zu verlieren. Noch immer steht Griechenland wirtschaftlich da wie ein Dritte-Welt-Land. Es exportiert Oliven, Obst und Gemüse, Käse, Tabak, Wein, daneben Bauxit, Halbwaren sowie Vorerzeugnisse aus Blech, Alu und Kupfer. Reederei und Tourismus spielen eine herausragende Rolle. Aber neue Schiffe und Wellnesshotels sind fragwürdige Investitionen in die Zukunft angesichts des rasanten technologischen Wandels.
Probleme aus der Geschichte
Auch das Bildungssystem ist schwach, der Forschung fehlt das Umfeld aus Hightech-Start-ups und Universitäten. Trotz mancher Erfolge bei den Reformen und der Konsolidierung der Staatsfinanzen ändert sich nichts an den tief in der Geschichte Griechenlands wurzelnden Problemen: an Korruption, Vetternwirtschaft, Klientelismus und den damit verbundenen Verhältnissen im Staatsapparat, die keine Troika jemals durchleuchten kann. Sie sind selbst für Minister und Staatssekretäre so undurchsichtig wie der Behördenapparat im Schloss aus Franz Kafkas gleichnamigem Roman.
Kafkaesk auch das traditionsreiche, von allen Regierungsparteien gepflegte System der Metakliti. Ein Metaklitos ist ein Staatsangestellter, der jeweils der Regierungspartei nahesteht und von ihr per Gesetz aus seiner derzeitigen Position auf eine neue Stelle versetzt wird, unabhängig von seiner Qualifikation. Metakliti sind ein altbewährtes Instrument jeder Regierungspartei. Sie sind im griechischen Parteienstaat das Bindeglied zwischen Regierung, Staat und Volk. So wird aus einem Englischlehrer der Vorsitzende eines Transportunternehmens, aus einem Feuerwehrmann der Generalsekretär der Rentenkasse für Rechtsanwälte und aus einem Vulkaniseur auf der Insel Santorin der Leiter eines Krankenhauses.
Dass die Entsendung an die neue Arbeitsstelle einhergeht mit einem höheren Gehalt und Sonderzulagen, versteht sich von selbst. Ebenso, dass vorzugsweise Verwandte von Amtsträgern bei der Stellenvergabe berücksichtigt werden, Ehefrauen, Ehemänner, Brüder, Cousins.
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Nicht Leistung und Qualifikation werden auf diese Weise honoriert, sondern Loyalität und Nähe zur Macht: Mediokratie statt Meritokratie. Eine Kultur der Mittelmäßigkeit, in der schon Kinder in der Schule lernen, worauf es im Leben ankommt. Elf Tage vor dem Wahlsieg der linksradikalen Syriza im Januar 2015 forderte Alexis Tsipras in einem Fernsehinterview die Abschaffung der Metakliti. Heute ist sein Cousin Jorgos Tsipras als Berater im Außenministerium tätig. Seine Ehefrau arbeitet für das Wirtschaftsministerium. Zwei Metakliti mehr.
Steuergelder, deren Verwendung niemand kennt
Rund 88 Metakliti arbeiten in der Villa Maximos, dem Amtssitz von Alexis Tsipras, die meisten davon als Berater und Generalsekretäre. Einer von ihnen ist Nikos Karanikas, Ex-Kellner, Ex-Lehrer und alter Parteifreund von Tsipras. Er wurde von Tsipras berufen und ist nun als Berater im Generalsekretariat des Premierministers zuständig für strategische Planung. Karanikas ist ein vielbeschäftigter Mann. Er starrt viel aufs Handy und aus dem Fenster, manchmal locht er ein Blatt. Vor allem twittert er.
Schon frühmorgens kommentiert er die Stöckelschuhe blondierter TV-Klatschmoderatorinnen und liefert sich in Chatforen unflätige Wortgefechte. Sein Gehalt liegt bei rund 2000 Euro im Monat, die Summe der Gehälter und Zulagen aller Metakliti irgendwo bei 55 Millionen Euro im Jahr. Das sind Steuergelder, von denen kein Bürger genau weiß, wie hoch sie sind und warum sie ausgegeben werden – und die, verglichen mit 88 Milliarden Euro Staatseinnahmen, ja auch nur ein Tropfen im Meer sind. Wie viele Metakliti es im gesamten Staatsapparat gibt und was genau sie tun, verliert sich im Ungefähren. Es fehlt an Organigrammen, Datenbanken, Datenabgleich, vor allem am Willen zur Transparenz.
Aber es genügt, um zu zeigen: Syriza ist nichts anderes als ein mit Doppeldenk und Neusprech bewaffneter Klientelverein im neuen Gewand, der die Rezepte der alten Volksparteien, die zum Staatsbankrott führten, vor der Wahl verdammt und nach der Wahl übernommen hat. Es macht die Sache besonders bitter, dass die Regierung moralische Überlegenheit für sich in Anspruch nimmt, sich angeblich als Fleisch und Blut des Volkes versteht, soziale Gerechtigkeit predigt und viel von Würde spricht. Sie fabulierte von einem sozialen Holocaust, von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, begangen von den neoliberalen Despoten der EU und des IWF. So tief steckt die Denkart griechischer Politik in Syrizas Knochen, so sehr ist die politische Kultur vom Klientelismus durchdrungen, dass sich ihr kaum ein Politiker entziehen kann.
Wie keine Partei vor ihr hat Syriza eine regelrechte Industrie der Metakliti errichtet. Am laufenden Band werden per Gesetz neue Komitees eingerichtet. In einem einzigen Jahr waren es 549, alle mit Metakliti besetzt, drei je Komitee. Ein Komitee für Kinderbibliotheken, eins für die Kontrolle des Krankenhauses auf Santorin und eines für die Evaluierung der Beschwerden von Staatsangestellten, die mit ihrer Evaluierung nicht einverstanden sind. Für alles gibt es in Griechenland solche Komitees. Sie werden mit einer Art Notfallregelung erschaffen, die es der Regierung erlaubt, Gesetze im Hauruckverfahren zu erlassen. Eine alte Methode. „Schrumpfung der Demokratie“ nannte das Alexis Tsipras, als er noch in der Opposition saß. Heute ist Syriza Spitzenreiter im Erlassen dieser sogenannten „königlichen Dekrete“. Über die Kosten, die diese Gesetze verursachen, gibt die Regierung keine Auskunft, obgleich sie gesetzlich dazu verpflichtet ist.
Anarchisten stürmen das Parlament
In der Einhaltung von Recht und Ordnung ist die griechische Regierung aber nicht nur in diesem Fall so erratisch wie Donald Trump in seinen Entscheidungen. Als die Anarchistengruppe Rubikon, die seit Monaten Büros und Ämter stürmt und verwüstet, auch ins Parlament eindrang und mit Flugblättern um sich warf, um für die Freilassung zweier Terroristen zu demonstrieren, wurde sie von der Polizei abgeführt. Parlamentspräsident Nikos Voutsis griff daraufhin zum Telefon und befahl ihre sofortige Freilassung: „Es sind unsere Leute. Bringt sie zurück.“
Drei Jahre nach dem Wahlsieg hat sich Syriza längst als der Inbegriff der Doppelmoral entpuppt. Der Politikstil der Partei ist vulgär, die Sprache schamlos, das Gedankengut perfide, das Rechtsverständnis willkürlich, die Argumentation scheinheilig. Syriza-Minister, die Renten und Heizkostenbeihilfen kürzen, beziehen ganz legal Mietzuschüsse von tausend Euro monatlich, obgleich sie Herren über Immobilien, Wertpapiere und Hunderttausende Euros auf dem Konto sind. Eine Regierung, die sich die moralische Revolution auf die Fahnen geschrieben hat, sieht anders aus. Der winzige Koalitionspartner von Syriza, die Anel-Partei von Verteidigungsminister Panos Kammenos, hat weder ein politisches Programm noch eine politische Zukunft. Es ist die Partei von Alexis Tsipras, die alles dominiert und die wie keine andere die pathologischen Züge griechischer Politik ans Licht gebracht hat.
Wie jede Regierung vor ihr benutzt auch die jetzige den öffentlichen Sektor, um Verwandte und Unterstützer in Lohn und Brot zu bringen. Alle nach November 2016 eingestellten Staatsbedienstete mit zeitlich befristeten Arbeitsverträgen werden fest übernommen. Geschätzte 26 000 neue Stellen wurden seit 2015 geschaffen, darunter auch für jene Bedienstete, denen aufgrund der Gläubiger-Auflagen gekündigt wurde, weil sie Gelder veruntreut, unterschlagen oder sich mit gefälschten Zeugnissen in den Staatsdienst gemogelt hatten.
Bedenken in Brüssel
Den Staatsapparat zu politisieren ist eine alte Praxis. Erst vor wenigen Tagen hat Brüssel Bedenken in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz und des öffentlichen Dienstes geäußert. Wie keine andere Partei vor ihr versucht Syriza, auch die letzten Winkel jeder Behörde unter ihre Kontrolle zu bringen. Syriza ist dabei, alles zu unterwandern, den ganzen Dschungel aus staatlichen Anstalten, Trägern, Körperschaften, Genossenschaften, Verbänden, Komitees, Ausschüssen und Sonderausschüssen, die unter der Regierung sprießen und gedeihen und sich mehren wie die Köpfe der Hydra.
Nach drei Jahren Syriza sitzen in nahezu allen Schlüsselpositionen die Getreuen der Regierung. Es ist wie in Venezuela unter Hugo Chávez. Auch an gewollter Intransparenz mangelt es nicht. Der Staatsapparat ist so übersichtlich wie die griechische Mythologie. Bis heute weigern sich etliche staatliche Unternehmen, Betriebe, Strukturen jeder Art, sich durchleuchten zu lassen, Organigramme und Stellenprofile anzufertigen. Aus guten Gründen. Es gibt Dinge im Leben, die man lieber für sich behält.
Auch Staatsbedienstete verweigern sich der Transparenz. Befeuert von der Dachgewerkschaft des öffentlichen Diensts, lehnen viele Angestellte die von der Troika und der Regierung geforderte Evaluierung ab. Zur Bewertung stehen Zuständigkeit, Leistung, Qualifikation. Vorgesetzte bewerten Untergebene und umgekehrt. Es gilt, Redundanzen und Überschneidungen aufzudecken und damit Kosten zu sparen. Das findet in der Öffentlichkeit breite Zustimmung. Nicht so bei den Bediensteten. Für manche ist die Evaluierung eine Waffe der Regierung, mit der sie ihren Gefolgsleuten Stellen zuschanzen will. Andere fürchten um ihre Stellen, weil sie wissen, dass sie überflüssig sind.
Krankenhäuser, Regionalverwaltungen, halbe Ministerien ließen Fristen verstreichen – trotz der Drohung, Zuwiderhandelnde künftig von Beförderungen auszuschließen. Wo kein Wille ist, da ist auch kein Weg. Und wenn nicht alle Zeichen trügen, dann wird Griechenland auch noch in hundert Jahren über einen dysfunktionalen Staatsapparat verfügen, der, wo immer es möglich ist, sich der Kontrolle entzieht. Man gewöhnt sich an alles. An Inkompetenz, in Sand gesteckte Steuergelder und Meldungen über erfolgreich umgesetzte Strukturreformen.
Nie aber gewöhnt man sich an den autokratischen Herrschaftsstil Syrizas. Die Regierung profitiert von der jahrzehntelangen Schwächung des Staatsapparats und der Aushöhlung seiner Institutionen. Ein Erbe der alten Volksparteien. Sie appelliert an niedrigste Instinkte und hat damit leichtes Spiel. Auch das ist eine Hinterlassenschaft ihrer Vorgänger, die zu ihren Zwecken einen verantwortungslosen, indifferenten, auf den eigenen Vorteil bedachten Bürger ohne Bürgersinn kultiviert haben. Nach sowjetischem Vorbild erschufen sie den Homo Graecus, im Kern ein Opportunist, der jede Verantwortung scheut, den Dienst im und am Staat desinteressiert und ohne Eigeninitiative verrichtet, der kein Unrecht darin sieht, sich an Staatsgeld und Staatseigentum zu vergreifen – ganz im Gegenteil, gehört doch die Kolchose allen und jedem.
27 Prozent Schattenwirtschaft
Niemand wird zur Verantwortung gezogen, niemand muss Rechenschaft ablegen. Nicht die Schmuggler, die unbehelligt Benzin und Tabak verkaufen. Nicht die Unternehmen, Freiberufler und Dienstleister, die das Steueramt umschiffen und die Schattenwirtschaft laut Internationalem Währungsfonds auf 27 Prozent des Bruttosozialprodukts haben anwachsen lassen. Schon gar nicht die Reichen, die auf der Liste stehen, die schon 2010 die damalige französische Finanzministerin Christine Lagarde ihrem griechischen Amtskollegen aushändigte. Es ist die berühmteste von mittlerweile vier Listen von Steuerhinterziehern. Um 1,3 Milliarden Euro geht es nur auf dieser einen Liste, bisher wurden ganze 95 Millionen Euro davon eingetrieben – und das trotz des Wahlversprechens von Syriza, Oligarchen und Superreiche zur Kasse zu bitten.
Erfolge gibt es nur in homöopathischen Dosen zu vermelden. In dem unter Naturschutz stehenden Küstengebiet Marathonas wurden nach 19 Jahren fünf von acht illegal erbauten Restaurants abgerissen. Illegal in Besitz genommenes Land soll in staatliche Hände zurückgeführt und verkauft werden, um die Staatskassen zu füllen. Auch die ins Stocken geratenen Zwangsversteigerungen von Immobilien scheinen weiterzugehen. Nach Drohungen und Handgreiflichkeiten gegenüber Notaren wurden sie ins Internet ausgelagert. Viele Schuldner können ihre Hypotheken nicht bedienen oder wollen es nicht, in der Hoffnung auf eine spätere Amnestie. Bei rund der Hälfte aller Bankkredite, gut 50 Milliarden Euro, sind die Schuldner im Rückstand. Mehr als 40 000 Immobilien sollen in den nächsten zwei Jahren versteigert werden.
Die Steuerfahnder haben 2017 genau 18 148 Kontrollen durchgeführt, rund 5000 mehr als im Jahr zuvor. Steuerverstöße von mehr als 100 Millionen Euro wurden dabei festgestellt. Damit nicht noch mehr Steuern hinterzogen werden, müssen Elektriker, Schreiner, Bestattungsunternehmer und Dutzende weiterer Berufsgruppen nun über bargeldlose Terminals für Bank- und Kreditkarten verfügen. Einnahmen kommen auch aus Pfändungen. Mit gut 102 Milliarden Euro stehen Bürger und Unternehmen beim Staat in der Kreide. Davon wurden 2017 rund vier Milliarden Euro eingetrieben. Etwa 14 Milliarden Euro gelten als verloren, weil die Schuldner längst bankrott oder verstorben sind.
Eine tickende Zeitbombe
Leicht einzusammeln sind Schulden bis 500 Euro. Dazu wurden knapp 1,7 Millionen Kontos gepfändet. Ironie der Geschichte: Vor der Machtübernahme unterstützten ranghohe Syriza-Mitglieder die „Ich zahle nicht“-Bewegung, die sich nicht nur weigerte, die neue Immobiliensteuer zu entrichten, sondern auch Bustickets und Mautgebühren. Heute pfänden sie Konten über fünf Euro. Obendrein schulden Selbständige und Arbeitgeber den gesetzlichen Sozialkassen Beitrage in Höhe von mehr als 35 Milliarden Euro. Das ist eine tickende Zeitbombe angesichts hoher Arbeitslosenzahlen, Überalterung und eines wachsenden Niedriglohnsektors.
Mittlerweile liegt Syriza in Umfragen zehn Prozent hinter Nea Dimokratia. Im Herbst 2019 finden Wahlen statt. Da liegt es nahe, ein Theaterstück aufzuführen, um die Gunst der Wähler zurückzugewinnen. Es nennt sich Novartis und handelt von Niedertracht und Raffgier, kurz, dem abgründigen Bösen.
Aber der Reihe nach. Zunächst suchte die Regierung wochenlang einen Kompromiss im jahrzehntelangen Namensstreit mit dem Nachbarstaat Fyrom, Former Yugoslav Republic of Macedonia. Ein politischer Selbstmord. Die Verwendung des Wortes „Mazedonien“ ist ausschließlich Griechenland vorbehalten, so die Meinung einer großen Mehrheit der Griechen. Unterstützt von Politikern aller Couleur, der orthodoxen Kirche und dem Komponisten Mikis Theodorakis, gingen Hunderttausende auf die Straße, um gegen „den Diebstahl einer antiken Hochkultur“ zu demonstrieren.
Kaum geriet die Regierung unter enormen Druck, öffnete sich der Vorhang für das Novartis-Schauspiel, das seitdem durch die Fernsehkanäle geistert. Der gleichnamige Pharmakonzern soll jahrelang rund 4000 Ärzte, Beamte und Politiker bestochen haben, darunter Tsipras‘ Vorgänger Antonis Samaras, Ex-Finanzminister Evangelos Venizelos, EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos und Zentralbankchef Giannis Stournaras, allesamt politische Gegner der Regierung. Demnach sollen die Preise für Medikamente erhöht und ihre Zulassung auf dem Markt beschleunigt worden sein. Auf bis zu 30 Milliarden Euro soll sich der Schaden belaufen.
Regierungsmitglieder schauen in Akten
Noch ist nichts bewiesen. Alles ist im Vagen. Es gibt Zeugen und einen Anfangsverdacht. Doch die Beweislage scheint dünn, und die Anklage steht auf unsicheren Beinen. Lange schon gilt Griechenlands Gesundheitssystem als überteuert. Kein Wunder. Der freie Markt ist wenig frei. Die Verwaltungen der staatlichen Kliniken sind so intransparent und die Kontrollen so lasch, dass sich Nebeneinnahmen automatisch von selbst erschließen für die Verantwortlichen, in der Regel Metakliti und damit Gefolgsleute der Regierung.
Ob auch Politiker mit Geldkoffern beschenkt worden sind, muss die Justiz klären. Doch die Justiz scheint nicht unabhängig zu sein. Mitglieder der Regierung marschieren einfach so ins Büro des Staatsanwalts, um einen Blick in die Akten zu werfen. Ein offener Rechtsbruch. Hinterher erzählen stellvertretende Minister in den Medien, die Namen der unter dem Schutz der Justiz stehenden Zeugen zu kennen. „Petzer“ seien sie, die in der Hoffnung auf Straferleichterung jetzt „singen“. Sollten sich die Anschuldigungen bestätigen, kein Mensch in Griechenland wäre überrascht. Wenig überraschend ist auch Syrizas hämische Niedermache und die Vorverurteilung ihrer politischen Gegner. Eine schnelle Aufklärung ist nicht in Sicht. Das ist ganz im Sinne der Regierung, die gemäß einiger Kommentatoren ihre inszenierte Hexenjagd bis zur nächsten Wahl fortsetzen wird.
Nun aber ist der Regierung plötzlich Ivan Savvidis in die Quere gekommen. Damit hat sich der mediale Fokus abermals gedreht. Ivan Savvidis, 59, geboren in Georgien, ist ein russischer Oligarch griechischer Abstammung. Er war Abgeordneter der Moskauer Duma und Chef des größten Tabakkonzerns Russlands. Er gilt als Freund Wladimir Putins. Sein kometenhafter Aufstieg in Griechenland begann 2011. Heute besteht sein Firmenimperium aus einem Mineralwasserkonzern, Hotels, der griechischen Tabakfabrik Sekap, dem Fußballclub Paok, Zeitungen, Anteilen am TV-Sender Mega und dem privatisierten Hafen Thessalonikis. Verteidigungsminister Kammenos und Ex-Premier Kostas Karamanlis zählen zu seinen Freunden. Er verglich Tsipras mit Putin und empfahl den Griechen, ihren Premier zu unterstützen.
Durchschaubares Kalkül
Natürlich. Unter Tsipras wurden seinem Fußballclub Paok 20 Millionen Euro an Verzugszinsen und Strafgebühren aus alten Schulden erlassen. Dank eines sogenannten „fotografischen Gesetzes“, das die Regierung haargenau auf ihre Klientel zuschnitt, wurde auch seine Tabakfabrik von 38 Millionen Euro Steuerschulden und Strafzöllen befreit. Savvidis‘ Zeitungen und TV-Sender danken es mit höfischer Berichterstattung. Inzwischen hat Savvidis die Tabakfabrik gewinnbringend weiterverkauft. „Die Oligarchen stehen ganz oben in der Liste unserer Agenda“, verkündete 2015 Giorgos Stathakis, Wirtschaftsminister der frisch gewählten Syriza-Regierung. Da stehen sie noch immer, die Oligarchen – als Begünstigte und Unterstützer der Regierung.
Nun also dreht sich statt um Novartis alles um Ivan Savvidis. Nach einem wegen Abseits aberkannten Tor seiner Mannschaft Paok stürmte Vereinspräsident Savvidis mit sieben Bodyguards und einer Pistole an seinem Holster auf das Fußballfeld und bedrohte den Schiedsrichter. Das Spiel wurde abgebrochen. Gegen Savvidis erging Haftbefehl wegen unbefugten Betretens des Spielfelds. Im Polizeibericht wird die Waffe nicht erwähnt. Die umstehenden Polizisten wollen die Pistole nicht gesehen haben, obgleich sie in Videos deutlich zu erkennen ist.