Das letzte Rettungsprogramm für Athen ist abgeschlossen, insgesamt 289 Milliarden Euro an Krediten überwiesen. Griechenland sei nun wieder ein „normales Land“, sagt EU-Kommissar Moscovici. Doch bei dieser „Normalität“ kann einem Angst und Bange werden.
Der Begriff „Zynismus“ stammt ursprünglich aus dem antiken Griechenland. „Zynismus“, das sich von dem griechischen Wort für Hund (κύων kyon) ableitet, bezeichnete die Lebensanschauung und Lebensweise der sogenannten „Kyniker“. Eine antike philosophische Schule, die ethischen Skeptizismus und Bedürfnislosigkeit lehrte. Einer ihrer Gründer war Diogenes von Sinope, der bekanntlich gerne mal eine Nacht in einem Vorratsfass verbrachte. Doch der antike Philosoph lebte freiwillig und aus Überzeugung wie ein Bettler – viele seine Nachfahren hingegen haben schlicht keine andere Wahl. Der Zynismus der Europäischen Union scheint keine Grenzen mehr zu kennen.
Während sich bei den Eurokraten in den letzten Tagen so manche Jubelfaust in den Brüsseler Himmel reckte, dürften die meisten Griechen eher die Faust in der Tasche geballt haben. Der Grund für die Partylaune in Brüssel: Nach acht Jahren verlässt Griechenland den Euro-Rettungsschirm. „Ihr habt es geschafft“, twitterte denn auch EU-Ratspräsident Donald Tusk euphorisch und gratulierte dem griechischen Volk.
Vielen Griechen war indes nicht zum Feiern zumute, und auch Ministerpräsident Alexis Tsipras hielt sich zunächst auffällig zurück. Die Jubelarien in Brüssel machen in der Tat einem englischen Sprichwort des 18. Jahrhunderts alle Ehre. Es lautet im Original: to add insult to injury. Wörtlich übersetzt: Nach der Verletzung folgt nun auch noch die Beleidigung.
Denn von „gerettet“ kann nicht die Rede sein. Acht Jahre, drei Kreditprogramme mit insgesamt 289 Milliarden Euro und immer wieder neue Spar- und Reformprogramme auf Druck der EU-Partner und des Internationalen Währungsfonds: Der Abschluss der scheinbar endlosen Rettungsbemühungen markiert in jedem Fall einen tiefen Einschnitt. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bemühte das Bild des „neuen Kapitels“, Finanzkommissar Pierre Moscovici sprach von einem „symbolischen Schlussstrich unter eine existenzielle Krise des Euro-Währungsgebiets“. Beide lobten die Anstrengungen der Griechen und versprachen Beistand und Freundschaft. Das dürfte in den Ohren vieler Griechen eher nach einer Drohung klingen.
So sieht zum Beispiel der Athener Buchhalter Nikos Wroussis die Sache deutlich realistischer. „Für mich und meine Kunden ändert sich nichts“, sagte der Prokurist gegenüber der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Wroussis, der Kleinunternehmen in Arbeitervierteln im Westen Athens betreut, verweist zum Beispiel auf anhaltende Kapitalverkehrskontrollen. Die Griechen dürfen bei einer Ausreise höchstens 3.000 Euro mitnehmen und auch nur begrenzt Geld elektronisch ins Ausland überweisen. Auch die „Hyperbesteuerung“ stört Wroussis: Für jede 100 Euro, die ein Händler, ein Rechtsanwalt, ein Arzt kassiere, müssten 72 Euro als Steuern, Renten- und Krankenkassenbeiträge gezahlt werden.
Schuldenkrise noch lange nicht gelöst
In absehbarer Zeit wird sich daran auch nichts ändern. Der griechischen Regierung fehlt auch nach dem Ende des Hilfsprogramms der Spielraum. Für die billigen Kredite aus dem Euro-Rettungsschirm ESM und künftige Schuldenerleichterungen musste sie beispiellos harte Auflagen akzeptieren. Der Staat muss so viel Geld sparen, dass er bis 2022 jährlich Primärüberschüsse von 3,5 Prozent erreicht – gemeint sind Haushaltsüberschüsse ohne Berücksichtigung von Zins und Tilgung für Kredite. Bis 2060 soll Jahr für Jahr ein Primärüberschuss von 2,2 Prozent bleiben. Wroussis nennt dies eine „ökonomische Zwangsjacke“.
Doch damit nicht genug: Die Gläubiger wollen mit weiteren strikten Kontrollen verhindern, dass Griechenland die während der Rettungsaktion brachial erzwungene Reformpolitik aufgibt. Schon in der Woche ab dem 10. September sollen wieder sogenannte Experten der Kreditgeber nach Athen reisen und dann regelmäßig im Rhythmus von drei Monaten. Diese „Experten“ sind die Nachfolger der gefürchteten „Troika“. Bei dem von dieser Dreiergruppe bestehend aus der Europäischen Zentralbank, dem Internationalen Währungsfond und der Europäischen Kommission angerichteten menschlichen Leid ist man fast geneigt, an die „Troika“ aus Zeiten des „Großen Terrors“ in der Sowjetunion zu denken. Damals verantwortete eine Kommission aus drei Personen die Todesurteile.
Dass die EU in nächster Zukunft die Daumenschrauben lockern wird, ist nicht zu erwarten. Weitere Rentenkürzungen für griechische Pensionäre sind zugesagt, aber noch nicht umgesetzt. EU-Kommissar Moscovici wurde am Montag gefragt, ob diese denn – bei entsprechenden Haushaltsspielräumen – zu umgehen wären. Das könne er nicht kommentieren, sagte der Franzose, machte dann aber doch eine klare Ansage: „Gemachte Zusagen müssen respektiert werden.“ Immerhin würden nun keine neuen Vorgaben mehr gemacht. „Griechenland ist jetzt ein normales Land“, sagte Moscovici.
Was der EU-Funktionär unter normal versteht, stellt sich folgendermaßen dar: Der gigantische Schuldenberg des Landes beträgt rund 180 Prozent der Wirtschaftsleistung (BIP). Das Gesamtvolumen der Staatsschulden beläuft sich auf 349,87 Milliarden Euro. Das Land verlässt den Rettungsschirm mit Rücklagen von lediglich 24 Milliarden Euro und könnte sich, wenn alles gut läuft, notfalls knapp zwei Jahre lang selbst finanzieren. Doch zu welchen Konditionen sich Griechenland an den internationalen Kapitalmärkten wieder frisches Geld beschaffen kann, ist noch völlig unklar.
Wenn es nach Griechenlands ehemaligem Finanzminister Yanis Varoufakis geht, der während der Eurokrise kurzzeitig zum Gegenspieler des damaligen deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble wurde, hat sich nichts Substanzielles verändert.
„Griechenland steht am selben Punkt, vor dem gleichen schwarzen Loch, und es versinkt jeden Tag tiefer darin. Auch, weil die Sparvorgaben der Gläubiger Investitionen und den Konsum behindern“, sagte Varoufakis am Montag der Bild. Der Staat sei aber noch immer pleite, die Privatleute seien ärmer geworden, Firmen gingen noch immer bankrott, und das Bruttosozialprodukt sei um 25 Prozent gesunken.
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Soziale Erosion hält Griechenland weiter im Griff
Doch das ist nur ein Teil der griechischen Schreckensbilanz. Rund 500.000 Griechen haben das Land verlassen. Vor allem junge Menschen, die in ihrem Land keine Perspektive mehr gesehen haben. Seit Beginn der Eurokrise gab es 22 Rentenkürzungen, jeder vierte Rentner muss mit weniger als 372 Euro auskommen. Zum 1. Januar 2019 werden die Renten erneut um bis zu 18 Prozent gekürzt, 2020 sinkt der Grundfreibetrag in der Einkommensteuer von heute 8.636 auf 5.685 Euro.
Zwar wächst die Wirtschaft seit 2017 wieder, aber mit 1,4 Prozent eher schwach. Die Arbeitslosenquote ist auf 19,5 Prozent gefallen. Vor der Eurokrise, im Jahr 2009, betrug sie 9,6 Prozent. Doch auch die Abnahme der Arbeitslosigkeit sagt wenig über die realen Verhältnisse in dem Land aus, da immer weniger Menschen Vollzeitjobs haben. Von den 1,7 Millionen Beschäftigten in der Privatwirtschaft arbeitet jeder Dritte in Teilzeit – für durchschnittlich 394 Euro im Monat. Somit haben sie nur geringe Chancen, nennenswerte Rentenansprüche zu erarbeiten.
Zudem wird das Arbeitslosengeld, 360 Euro für einen Single, 504 Euro für eine vierköpfige Familie, maximal ein Jahr lang gezahlt. Eine Grundsicherung wie Hartz IV gibt es in Griechenland nicht. Oft ist die Arbeitslosigkeit der erste Schritt in die Obdachlosigkeit. Laut einer Studie der griechischen NGO Klimaka waren in Griechenland bereits im Jahr 2011, also während der ersten Jahre der Wirtschaftskrise, an die 20.000 Personen obdachlos. Im Jahr 2016 wurde die Zahl auf 40.000 geschätzt. Das bei einer Gesamteinwohnerzahl von knapp über zehn Millionen in Griechenland. Zum Vergleich, in Deutschland mit seinen über 80 Millionen Einwohnern sind geschätzt etwas mehr als 50.000 Menschen obdachlos. Auch hier droht weiteres Ungemach: Bis 2021 soll es in Griechenland laut Forderung der Gläubiger 130.000 Zwangsversteigerungen geben.
Folgen der Sparpolitik: Steigende Selbstmordrate und Prostitution
Die sozialen Erosionen infolge der Eurokrise haben aus Griechenland ein anderes Land gemacht. Wie Forscher2015 im Fachblatt BMJ Open berichteten, stieg die Suizidrate in Griechenland im Juni 2011 um rund 36 Prozent an – das entspricht etwa elf Selbsttötungen im Monat. Damals hatte die Regierung eines der ersten Sparpaket verabschiedet, begleitet von heftigen Protesten. Wie die CretePost unter Berufung auf die Washington Post und die Times ebenfalls 2015 berichteten, verkaufen sich junge griechische Frauen mittlerweile zum Preis eines Sandwiches an Freier.
Die Studie, die Daten über mehr als 17.000 in Griechenland tätige Sexarbeiterinnen zusammengestellt hat, stellte fest, dass inzwischen griechische Frauen die Prostitutionsbranche des Landes beherrschen und die osteuropäischen Frauen verdrängten. Und dass der Sex, der in Griechenland verkauft wird, der billigste in Europa ist. „Manche Frauen machen es einfach für eine Käsepita oder ein Sandwich, weil sie hungrig sind“, wird Gregory Laxos, Soziologieprofessor an der Panteion-Universität in Athen, zitiert. „Andere tun es, um Steuern zu zahlen, Rechnungen, für dringende Ausgaben oder schnelle Drogen“, so Laxos weiter, der die dreijährige Studie leitete.
Staatliche Unternehmen werden privatisiert – Militärausgaben bleiben hoch
Außerdem wurden wichtige griechische Staatsunternehmen zu Schleuderpreisen an ausländische Investoren verhökert. So pachtete das deutsche Unternehmen Fraport in letzten Jahr 14 griechische Flughäfen. Das erste Geschäftsjahr bis Ende 2017 verlief dem Fraport-Geschäftsbericht zufolge auch gleich erfolgreich. Der Passagieranstieg um mehr als zehn Prozent auf 27,6 Millionen Menschen führte zu einem Umsatz von 235 Millionen Euro – leicht oberhalb der Erwartungen – und einem Gewinn von 13,5 Millionen Euro.
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Auch die staatliche Eisenbahngesellschaft TrainOSE kam unter den Hammer. Hier schlugen die Italiener zu. Ferrovie dello Stato (FS) kaufte das Unternehmen für 45 Millionen Euro auf. TrainOSE ist der alleinige Betreiber des griechischen Personen- und Güterverkehrs. Dieser Verkauf, wie auch alle anderen, beruht auf den Forderungen der EU im Zusammenhang mit den Rettungspaketen der Troika an die griechische Regierung. Die Privatisierung ist eine Grundbedingung für Zahlungen aus dem Rettungsfond. Dazu gab es in Griechenland noch Kürzungen im Gesundheits- und Bildungswesen. Nur an einer Stelle wurde nicht gespart: beim Militär.
Eine Aufstellung aus dem Jahr 2016 kam zu dem Ergebnis, dass Griechenland trotz sieben Jahren akuter Finanz- und Wirtschaftskrise und mittlerweile drei Milliardenkrediten der Euroländer bei den Militärausgaben an zweiter Stelle hinter den USA steht. Die Syriza-Regierung gab 2016 rund 2,38 Prozent der Wirtschaftsleistung für die Verteidigung aus, für die USA stehen 3,61 Prozent zu Buche. Die NATO-Richtlinie von zwei Prozent des BIP erreichten 2016 sonst nur Großbritannien, Estland und Polen. 2017 gaben nur zwei weitere Länder in Europa, nämlich Estland und Griechenland, mit jeweils 2,2 Prozent und 2,4 Prozent mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für ihr Militär aus.
Diese Zustände muss man vor Augen haben, wenn man sich die Lobeshymne des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zu Gemüte führt. Macron lobte den Mut und die Würde der Griechen. „Frankreich bleibt an seiner Seite, damit wir gemeinsam mit unseren Partnern die Zukunft der Europäischen Union aufbauen können“, schrieb Macron via Twitter. Sein glückloser Amtsvorgänger François Hollande hatte sich hingegen für einen „Grexit“, also einen Austritt des Landes aus der Eurozone, eingesetzt und war in der Griechenland-Krise auch auf Distanz zum harten Sparkurs in Berlin gegangen. Auch Teile der deutschen Presse scheinen in Feierlaune zu sein. So findet die Tagesschau, „dass sich etwas bewegt“, und ist „verhalten optimistisch“. Beim Deutschlandfunk ist man da schon weiter. Da wird Griechenland offen paternalistisch gratuliert: „Gut gemacht, Griechenland!“
Somit wird der ehemalige griechische Finanzminister Varoufakis vermutlich leider Recht behalten. Schon bei seinem Regierungsantritt 2015 warf er den Geldgebern „fiskalisches Waterboarding“ vor und warnte vor einem „sozialen Holocaust“ in Griechenland.
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