Aus: Karl Kautsky, Serbien und Belgien in der Geschichte, Österreich und Serbien, 16. Die Balkanrepublik
Doch wären damit noch nicht alle Elemente der Unruhe auf dem Balkan entfernt. Eines bliebe, die Kleinstaaterei. An Stelle des ehemaligen Gebiets der europäischen Türkei sind getreten Rumänien, das vor dem Kriege 5.900.000 Einwohner zählte; Bulgarien mit 4.700.000, Griechenland mit 4.800.000, Serbien mit 4.600.000. Daneben noch Montenegro mit 500.000, Albanien mit etwa 800.000, die europäische Türkei mit 1.800.000 Einwohnern. Wir sehen hier ein weitgehende Zersplitterung des Gebiets in eine Reihe kleiner Staaten, von denen keiner das Gleichgewicht über die anderen, die dabei nicht, wie etwa die skandinavischen Staaten, durch ausgeprägte natürliche Grenzen voneinander geschieden werden, deren Nationalitäten noch im Zustand der Bildung begriffen sind und vielfach keine deutlichen sprachlichen Abgrenzungen aufweisen. So fehlt es unter ihnen nicht an Konflikten und steten Bestrebungen nach Grenzverschiebungen.
Was beim einzelnen Kleinstaat an eigener Kraft fehlt, sucht er durch „Anlehnung“ an einen stärkeren zu erreichen, wobei er dessen Werkzeug wird. Wie unter ähnlichen Umständen in Deutschland und Italien bis 1870 die Kleinstaaterei das Land zu einem Objekt ständiger fremder Einmischung, Frankreichs, Rußlands, Österreichs, machte, damit aber auch zu einem Objekt, aus dessen lokalen Konflikten leicht Weltkonflikte erwuchsen, so gilt das auch für den Balkan.
Die russische Revolution, die an Stelle des Zaren eine demokratische Republik gesetzt hat, nimmt diesen Zuständen viel von ihrer Gefährlichkeit für den Weltfrieden, vollständig beiseite geräumt können sie nur werden auf dem Wege, den Karl Marx schon 1853 bezeichnete: die Ersetzung der europäischen Türkei „durch die Errichtung eines griechischen Reiches oder durch eine föderale Republik der slawischen Staaten“. (Gesammelte Schriften von Marx und Engels 1852 bis 1862, I, S. 197)
Ich nahm diese Idee auf und äußerte sie in meiner Vorrede zur bulgarischen Übersetzung meiner Abhandlung über Republik und Sozialdemokratie in Frankreich. Die Vorrede ist abgedruckt im Wiener Kampf (1. Dezember 1908)
Ich sagte dort:
Es gibt nur einen Weg, die bulgarische Nation vollständig zu einigen, die Bulgaren Mazedoniens mit ihren Brüdern zu vereinigen, ohne äußere Hilfe für Bulgarien und ohne ewiges Zerwürfnis mit Serben, Griechen, Türken, und das ist die Vereinigung aller Nationen der Balkanhalbinsel in einer Föderativrepublik.
Bilden Bulgaren, Serben, Griechen, Türken zusammen ein einziges Staatswesen, so können deren Nationsgenossen in Mazedonien mit ihren Nationen vereint ein gemeinsames nationales und staatliches Dasein führen, ohne daß einer dieser Nationen auf den Widerstand aller anderen Balkannationen zu stoßen braucht. In einem solchen Bundesstaat vereinigt, werden alle die einzelnen Nationen der Balkanhalbinsel auch erst wirklich unabhängig vom Ausland, während sie bisher die Unabhängigkeit vom Sultan nur dadurch erkauften, daß sie die Vasallen des Zaren oder Österreichs ober Englands wurden. Sie bilden dann ein gewaltiges Reich, das sich jede Einmischung von außen verbitten kann. Mit der Bildung eines so ausgedehnten inneren Marktes würde auch der ökonomische Aufschwung jener Gegenden gewaltig beschleunigt, vielfach erst möglich werden.
In gleichem Sinne sprach sich die erste sozialdemokratische Balkankonferenz aus, die im Januar 1910 stattfand und an der Vertreter aus Serbien, Bulgarien (die „Engen“), Rumänien, der Türkei, Montenegro, Bosnien, Kroatien, Krain teilnahmen und auch von griechischen Sozialisten mit einem Zustimmungstelegramm begrüßt wurde. Sie verlangte den Zusammenschluss nicht bloß der slawischen Staaten, sondern der Staaten des Balkans überhaupt zu einer föderativen Republik.
Dieses staatliche Gebilde wäre das souveräne Mittel, die Balkanfrage, das heißt die Einmischung der europäischen Großmächte in die Angelegenheiten der Balkanvölker, für immer zu beseitigen. Im Rahmen der Balkanrepublik wäre auch am ehesten und schmerzlosesten die Frage Albaniens zu lösen, dessen Bevölkerung noch nicht fähig ist, einen modernen Staat für sich allein zu bilden, und doch zu kraftvoll und freiheitsdurftig, um sich ohne drückende Gewalt und furchtbares Blutvergießen einem fremden Staate einverleiben zu lassen. Schließlich könnte auch die Frage Konstantinopels durch die Balkanföderation ihre Lösung finden.
Keine der Großmächte gönnt den anderen diese Position, die so viele Straften zwischen Abendland und Morgenland beherrscht. In den Händen eines schwachen Staatswesens, das seine Selbständigkeit nicht zu wahren weiß, wird dieser Besitz erst recht umstritten und zu einem steten Zankapfel. Sollte nicht die Türkei neugestärkt, entwicklungsfähig und nach allen Seiten selbständig aus dem jetzigen Kriege hervorgehen, dann würde die Balkanrepublik als Besitzer Konstantinopels den Streit der Mächte um den Platz am Bosporus weit eher zum Schweigen bringen als die geplante Internationalisierung der Meerengen.
Ein Vorbild der neuen Republik böte die Schweiz: eine Balkanrepublik, aber keine monarchische Schweiz.
Monarchien verzichten freiwillig nie auf ihre Souveränität. Wo gleich starke Monarchien nebeneinander bestehen, ist das Aufkommen einer über ihnen stehenden Bundesgewalt unmöglich. Das gilt für die geplanten vereinigten Staaten von Europa, es gilt ebenso für die Vereinigten Staaten des Balkans.
Die Erfahrungen in Italien wie in Deutschland bezeugen das. In Italien versuchten zu verschiedenen Malen in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts seine Potentaten sich zu gemeinsamem Vorgehen zusammenzutun, um die Fremdherrschaft loszuwerden. Alle diese Versuche waren sehr kurzlebig. Auch die deutsche Einigung wurde erst möglich, als den Kleinstaaten nur ein einzelner überwiegender Großstaat, Preußen, gegenüberstand.
Und der Balkan selbst hat die beste Probe aufs Exempel geliefert. Der Balkanbund seiner Fürsten zerfiel, kaum daß er recht in Kraft getreten war, und endigte in einem blutigen Kriege der Bundesbrüder untereinander.
Wir können nicht damit rechnen, daß im Laufe dieses Krieges schon die Vorbedingungen jenes großen Staatswesens auf dem Balkan geschaffen werden.
Ebenso wie das Ausmaß an Freiheit, das Österreich seinen Südslawen gewährt, hängt die Verwirklichung der Balkanrepublik vor allem von inneren Kämpfen ab, die der Friesensschluß nicht beendet sondern für die er vielmehr erst recht Raum schafft. Zwei der wirksamsten, vielleicht die wirksamsten „materiellen Garantien“ für die Dauer des Friedens auf dem Balkan können nicht durch Grenzveränderungen geschaffen werden, sondern nur durch die Stärkung der demokratischen Elemente unter den Balkanvölkern. Je mehr die Art des Abschlusses des Krieges diese Elemente kräftigt und ihre Gegner schwächt, um so gesicherter wird der Friede sein. Darin besteht die wahrhafte „materielle Garantie“, die der internationale Sozialismus anzustreben hat – und nicht auf dem Balkan allein.
Nichts irriger, als in dem Frieben einen Abschluß zu sehen, der die Lösung aller Probleme bringt, die der Krieg aufgeworfen hat; einen Abschluß, zu dem wir uns daher erst dann verstehen dürfen, wenn die Kriegalage eine Form angenommen hat, die jene allgemeine Lösung herbeiführt. Diese Auffassung bedeutet nichts als die Verlängerung der grauenhaften Verwüstung und Verschwendung, eine Verlängerung des entsetzlichen Mordens, die bei der Gleichheit der Kräfte auf beiden Seiten eine endlose und aussichtslose zu werden droht und überdies ganz zwecklos ist, denn solange die augenblicklichen sozialen und politischen Verhältnisse fortbestehen, ist eine allseitige und befriedigende Lösung der nationalen und internationalen Probleme nicht möglich. Oder will man die Parole ausgeben: Fortsetzung des Krieges bis zur sozialen Revolution? Das hieße Fortsetzung des Prozesses der Vernichtung des Kapitals und der Arbeiter, bis der ganze Kapitalismus zugrunde gerichtet ist, mit ihm aber auch seine Erben und deren Erbschaft zum Teufel gegangen sind. Eine sichere Methode, den Kapitalismus zu vernichten, aber auch den Sozialismus unmöglich zu machen.
Kein Zweifel, ein Friede, der alles bringt, was wir zurzeit ersehnen und brauchen, ist nicht zu erwarten. Das heißt nicht, daß wir einen solchen Frieden verwerfen; es bedeutet nur, daß das, was der Friede bringt und bringen kann, nicht einen Abschluß herbeiführen wird, sondern einen Beginn, die Eröffnung einer neuen Ära großer, entscheidender Kämpfe um Staat und Gesellschaft. Was wir vom Frieden erwarten und verlangen, ist nur, daß er einen Boden bietet, der es dem Proletariat ermöglicht, kraftvoller in die kommenden Kämpfe einzugreifen, als dies im Kriege möglich ist, als es vor dem Kriege möglich war.
Am Proletariat wird es dann liegen, dem Status quo radikal ein Ende zu machen und jene Staatsformen und Staatsgrenzen zu gestalten, in denen die Völker dauernd befreit und ihre Gegensätze dauernd überwunden sind.
https://www.marxists.org/deutsch/archiv/kautsky/1917/serbelg/serb-16.html