Im Untergrund der Stadt Athen stapeln sich zahlreiche Schichten aus unterschiedlichen Epochen aufeinander: Griechische und römische Antike, die hellenistische Zeit, aber auch das byzantinische und das osmanische Reich haben in der Vergangenheit der Stadt ihre Spuren hinterlassen
Das Wort κείμενο (keimeno) hat im Griechischen eine doppelte Bedeutung: Als Adjektiv beschreibt es etwas Gefallenes, etwas Eingestürztes; als Substantiv hingegen ist keimeno das altgriechische Wort für „Text“, für das niedergeschriebene Schriftstück.
Im Untergrund der Stadt Athen stapeln sich zahlreiche Schichten aus unterschiedlichen Epochen aufeinander: Griechische und römische Antike, die hellenistische Zeit, aber auch das byzantinische und das osmanische Reich haben in der Vergangenheit der Stadt ihre Spuren hinterlassen. Es verhält sich geradezu so, als ob diese zahlreichen unterschiedlichen Fundamente vergangener Zeiten Fragmente von Texten bildeten, die sich im Untergrund entfalteten.
Die Disziplin der Archäologie zeichnet sich dadurch aus, dass sie diese Schichten – oder auch diese Texte – mittels eines Lesecodes zu entziffern weiß. Nicht nur die Materie im Untergrund, auch diejenige der neuzeitlichen Stadt lässt sich durchaus als Text auslegen, an dem sich bestimmte Entwicklungen ablesen lassen.
Als das neuzeitliche Athen im 19. Jahrhundert zur Hauptstadt eines noch sehr jungen Staates bestimmt wurde, entschied man sich gezielt für eine ganz bestimmte Lesart aus diesen zahlreichen Palimpsesten. Wie sich gezeigt hat, lässt jedoch auch dieses eine Palimpsest weitaus mehr Lesarten zu als nur die eine, die zunächst beabsichtigt gewesen war. Athen bietet folglich reichlich Material für eine erste, grobe Geschichte seiner Visionen, denn hier kristallisieren sich zeitgleich die Theorie der westlichen Hegemonie, die Desillusionierung des Idealismus, das Ende des Logozentrismus, die Dekonstruktion und – als Kulminationspunkt der jüngsten Athener Geschichte(n) – die postdemokratische Konstruktion des Hegemonialen und damit die Brutalität, mit der das Subalterne als Normalität oder Unausweichlichkeit menschlichen Daseins akzeptiert wird.
Dorothee Burr Thompson, Athenean Agora, Athen (1937), Schwarz-Weiß-Fotografie
Diese Brutalität, die das Hegemonische heute kennzeichnet, bezieht ihre Rigidität direkt aus der Absage an die griechische Antike. Diese Absage an die intermediäre, nicht-existente Welt des antiken Griechenlands – eine Referenz, die noch bis vor Kurzem als unanfechtbar galt – blieb nicht ohne Folgen: Die Gegenwart erscheint in dem Maße als unausweichlich, wie das Potenzial geschwunden ist, alternative Zukunftsszenarien zu entwerfen.
Wenn die Gegenwart des neuzeitlichen Athens im Bezug auf eine untergegangene Vergangenheit etabliert wurde, so zeichnet sich die sogenannte Unmittelbarkeit der Gegenwart durch die Auflösung dieser Beziehung aus, die einst als Referenz zwischen der Neuzeit und dem idealisierten Erbe der Antike in Erscheinung trat. Das Imaginäre unseres post-demokratischen Zeitalters formiert sich als die Unmöglichkeit einer Rückkehr zu einem europäischen Staat. Innerhalb dieses Europas mag das antike Griechenland eine nicht besonders interessante Idealisierung repräsentiert haben, doch stand es gleichzeitig als Zeichen für das Unbeständige und bildete folglich eine vielversprechende Negation alles Gegenwärtigen.
Wenn wir heute durch Athen streifen, so stellt sich uns die eingestürzte Materialität der Stadt als ein wirres, nicht entzifferbares Rätsel dar. Wir lesen in dieser Materialität eine Art Prophezeiung, die vom niederschmetternden, aber dennoch heroischen Fall Europas kündet. Zweifelsohne verweist das neuzeitliche Athen auf die große europäische Idee; selbst die Konstruktion der Stadt als etwas „Antikes“ ist diesem europäischen Denken geschuldet.
In der eingestürzten Materie, aus der sich die zeitgenössische Stadt zusammenfügt, kristallisiert sich damit der schon lange angekündigte Untergang des Westens. In Ermangelung eines alternativen Lesecodes kündet Athen für uns weiterhin emphatisch von seiner europäischen Vergangenheit wie auch von seiner ungewissen Zukunft. Und wie bereits in der Vergangenheit, so spricht die Stadt auch heute keineswegs mit einer einzigen Stimme, sondern im Chor vieler verschiedener Stimmen.
Athen – eine Stadt, deren antiker Name Αθήναι eine Pluralform ist – reiht sich nicht nur ein in eine große Anzahl anderer Metropolen, in ihm kulminieren auch diverse Aspekte des Subalternen, Merkmale jener Länder und Völker, die sich jenseits des Hegemonialen bewegen. Indem die Stadt heute abermals im Gewand des Subalternen daherkommt, eine Geste, mit der sie – zumindest aus Sicht des hegemonialen Westens – ihre ehemalige Führungsrolle ablegt und ihre Souveränität preisgibt, büßt Athen seine überkommene Bedeutung ein, zumal sich der Westen zunehmend weigert, im antiken Griechenland seinen besonderen Vorfahren zu sehen. Der Niedergang dieser Stadt ist dabei wiederum zum Sinnbild geworden und lenkt den Blick auf Fragen, die nicht nur von lokaler, sondern vor allem von globaler Bedeutung sind.
Die erste Begegnung zwischen Europa und Griechenland gestaltete sich als Erfahrung einer Enttäuschung und zugleich als einer Erfüllung, insofern, als sich der Westen voreilig und überstürzt mit der Konstruktion eines halbmythischen neuzeitlichen Griechenlands zufrieden gab.
Beides zusammen, die Kombination aus Enttäuschung und Erfüllung, beschreibt ein- und dieselbe Struktur, und zwar die Performanz des neuzeitlichen Athens als Resultat der Wahrnehmung von einer Korrespondenzbeziehung. Sowohl für Europa als auch für Griechenland wurde es zur existenziellen Bedingung, dem Bild von der Vergangenheit Rechnung zu tragen.
Angesichts der hohen Erwartungen und des tatsächlichen Ergebnisses dieser ehemals heroischen Begegnung wurde Athen, zumal aus Sicht des heutigen Europas, zu einer Übung in Enttäuschung, nicht zuletzt aufgrund des schwindelerregenden Ehrgeizes und Eifers, mit denen es geplant und errichtet wurde. Die Struktur der Stadt ist das Ergebnis eines immer wieder aufs Neue durchgeführten Versuchs der Wiedererlangung des einst Gewesenen.
Heute gibt es nichts mehr, was darauf hindeuten könnte, dass Athen eine Bezugsgröße mit Weltgeltung wäre oder es in naher Zukunft wieder werden könnte. Das Versprechen einer Wiederbelebung des antiken Griechenlands hat sich nicht erfüllt. Dies nicht nur, weil es dem neuzeitlichen Griechenland nicht gelungen ist, dem antiken Erbe Rechnung zu tragen, sondern auch, weil dieses Vorhaben von Anfang an sabotiert wurde. Auch misst der globale Norden Athen nicht mehr dieselbe Bedeutung bei wie einstmals der europäische Westen. Um Athen als besondere Bühne all dieser Konfigurationen einer näheren Betrachtung zu unterziehen, empfiehlt es sich, den Blick nach unten zu richten, auf die Erde und damit auf den „Boden“, aus dem es erwachsen ist und der eine doppelte Lesart der griechischen Hauptstadt eröffnet.
Athen als neuzeitliches Ballungsgebiet ist nicht aus sich selbst heraus erwachsen, es wurde regelrecht erfunden, und nicht nur als ein rein großstädtisches Phänomen; seine neuzeitliche Errichtung gestaltete sich als die Wiedergeburt des Phantoms einer unsichtbaren Stadt. Als der bayerische Prinz Otto, 1832–1862 König von Griechenland, Mitte des 19. Jahrhunderts Athen zur Hauptstadt des hellenischen Staates erklärte und die Architekten Eduard Schaubert und Stamatios Kleanthis mit der Planung beauftragte, hatte er ein Ziel vor Augen: die Ruinen wieder in ihrer vollen Pracht erstrahlen zu lassen.
Dieses Unterfangen erforderte jedoch zahlreiche Sprengungen und Zerstörungen. Das, was als ehemaliges Zentrum der einstigen osmanischen Provinzstadt galt – die Spitze des Hügels, um die sich die Monumente reihen, die sich dem Auge heute offen darbieten, sowie das Gebiet nördlich der Akropolis –, zierten vormals etwa vierzig Häuser, die weichen mussten, damit die alten Ruinen wieder in ihrer antiken Pracht erglänzen konnten.
Darüber hinaus wurde es notwendig, auch unterhalb der sichtbaren Oberfläche der kleinen osmanischen Stadt archäologische Arbeiten durchzuführen. In diesem Zuge wurden zahlreiche Grabungsstätten „errichtet“, die immer mehr Funde „produzierten“. Die Konstruktion der Vergangenheit wurde unmittelbar nachdem das bayerische Königshaus Athen zur neuen Hauptstadt erklärt hatte in Angriff genommen, und die Architekten Kleanthis und Schaubert trieben mit ihren Plänen die neoklassizistische Inszenierung der Stadt voran.
Ähnlich wie die archäologische Erforschung der Stadt scheint es auch bei der Errichtung der neuzeitlichen Hauptstadt darum gegangen zu sein, gleichsam „neue Ruinen“ aus den sichtbaren oder auch unsichtbaren Überresten herauszuschälen. Die antiken Ruinen fanden sich so umrahmt von einer Landschaft der urbanen Leere. Die archäologischen Parkanlagen Athens mit ihren Ruinen zeugen noch heute von der nicht enden wollenden Bereinigungsoperation, die das verzweifelte Ziel verfolgte, immer noch mehr Ruinen ans Tageslicht zu bringen; die heutige Hauptstadt Athen hätte es möglicherweise ohne seine Definition als Feld möglicher Fundstellen nicht gegeben.
Entsprechend scheint es, als ob in Athen das gesamte Stadtgefüge für den Blick eines fremden Betrachters geschaffen worden wäre. Die Existenz Athens war stets einem Anderswo geschuldet. Es ist nicht einer „inneren“ Notwendigkeit erwachsen, sondern präsentiert sich als bewusster und künstlicher Vorschlag der Herstellung einer Relation zu einer spezifischen Örtlichkeit. Die Stadt stellt nicht ein konkretes, autonomes urbanes Gefüge dar, sondern eine narrative Leerstelle wie auch zugleich das System, mit dem diese Leerstelle gefüllt werden kann: ein System, das sich zusammensetzt aus Worten, Sätzen, Ideenfragmenten, Konzeptualisierungen, Katalogen, Indizes, palimpsestierten Narrativen und Mythologien: ein komplexes Inventar von Fragmenten, vermittels dessen sich Athen als mögliches Decodierungssystem für disparate Texte anbietet. Selbst wenn die Stadt heute eine ganz eigene Note des Verfalls entwickelt hat, so markiert sie doch als ein noch nicht gänzlich herausmodelliertes Versprechen – oder ein ominöser Unfall – die Geschichte der Zukunft der Zivilisation.
Der folgende Streifzug durch Athen beabsichtigt keineswegs, vom Spezifischen auf das Allgemeine zu schließen. Vielmehr möchten wir hier die Materialität der Stadt als „sprechende“ Verdichtung verstanden wissen und diesen Text als kritische Bemerkung zu einem globalen Phänomen, das erstmals über- und unterhalb des Athener Bodens Gestalt angenommen hat.
Der vorliegende Kommentar befasst sich zunächst mit den Strukturen und Mechanismen des Vergessens und beleuchtet sie in einem zweiten Schritt in ihrem Verhältnis zur Hegemonie des Westens. Im spezifischen Fall von Athen bietet sich die Betrachtung zweier verschiedener Arten von Boden- und Konstruktionsarbeiten an, um die Mechanismen der Okkupation des Grundes zu lesen: zum einen die seiner archäologischen Ausgrabungsprojekte, zum anderen die seiner infrastrukturellen Entwicklung.
Schon zu der Zeit, da Athen von König Otto und seinen Architekten wiederentdeckt wurde, war die Installation einer stetig erweiterbaren Infrastruktur für die Errichtung und Expansion der Stadt besonders wichtig. Folglich erschien es notwendig, die Pläne für das neue Athen den neuesten technologischen Entwicklungen und infrastrukturellen Standards anzupassen. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurde in den Städten des Westens das weitreichende infrastrukturelle Netz in den Untergrund verlegt. Mit der Anbindung der Haushalte an ein System von Netzwerken begann sich der städtische Alltag als Schleife von Wiederholungen zu gestalten. Die Auffassung, die wir vom Alltag haben, ist das Konstrukt der Infrastruktur selbst, die zu ihrer stetigen Ausbreitung und Erweiterung Anspruch auf den Untergrund einer jeden heutigen Stadt erhebt.
Der Architekt Dimitris Pikionis beschreibt in seiner 1954 veröffentlichten Abhandlung Gaias Atimosis1 (Die Entehrung der Erde) die Kollision zwischen den neuen infrastrukturellen Konstruktionsarbeiten und den historischen Funden als einen unglücklichen Unfall, der durch sorgfältige Planung hätte vermieden werden können. Eines jedoch entgeht Pikionis’ scharfem Blick: der systemische Charakter dieses Konflikts, der aufgrund der Entscheidung des bayerischen Königs, eine begrabene Epoche auf dem Wege der Erschaffung einer neuen Stadt glorifizieren zu wollen, in ebendieser Stadt notwendig zur Explosion führen musste.
Athen als die neuzeitliche Hauptstadt Griechenlands sah sich unvermittelt Fragen gegenübergestellt, die sich aus der Transformation seines idiosynkratischen Untergrundes zu einem neutralen Feld für die urbane Infrastruktur ergaben. Es fällt auf, dass die Infrastruktur als ein erweiterbares unterirdisches System Parallelen zu archäologischen Ausgrabungsarbeiten aufweist: In beiden Fällen haben wir es mit nicht enden wollenden Unterfangen zu tun, denen es verwehrt bleibt, den Zustand der Vollständigkeit jemals zu erreichen.
Es ist das unverkennbare Merkmal der urbanen Infrastruktur, dass sie zu keinem Zeitpunkt den Ansprüchen ihrer Nutzer wird genügen können. Unentwegt weist sie Mängel auf, ihre Dienstleistungen sind schnell überholt und werden immer wieder aufs Neue als unzureichend empfunden. Technische Upgrades, die Integration erweiterter Funktionen und die Erschließung neuer Bereiche treiben ihre stetige Expansion voran, weshalb sie auch immer wieder aufs Neue gewartet werden muss.
In demselben Maße, wie die Infrastruktur als endloser Prozess betrachtet werden kann, ist auch die Arbeit der Archäologen vom Verlust der Kontrolle über die Zeit gekennzeichnet. Die fortgesetzten archäologischen Arbeiten, die für nötig erachtet werden, um eine vergangene Epoche gebührend zu repräsentieren, spiegeln das Bestreben wider, einer verlorenen Zeit erneut Gestalt zu geben und sich eine unmögliche Vergangenheit anzueignen.
Während die Archäologie mit dieser Zeitstruktur der Endlosigkeit auf die Vergangenheit abzielt, projiziert die Infrastruktur dieselbe Zeitstruktur in Richtung auf eine höchstgradig technisierte Zukunft, ein Ziel, das gleichfalls niemals gänzlich erreicht werden kann. Die Besiedelung des abstrakten infrastrukturellen Raums – zusammen mit der Definition seiner Nutzer – organisiert dieses gängigere, jedoch in gleichem Maße unfertige Projekt. Indem der Archäologie die Aufgabe zugesprochen wurde, Athen ihre Vergangenheit wiederzugeben, während die Infrastruktur ihre Zukunft garantieren sollte, verwandelten sie den Boden der Stadt in ein Konfliktfeld.
Durch die Anpassung sämtlicher Bereiche des urbanen Lebens an die Vorgaben der Infrastruktur gestaltet sich das Alltagsleben zu einer direkten Erfahrung dieser Systeme selbst. Wenn der Westen aus einer besonderen Beziehung zu einer Idee von seiner Vergangenheit hervorgegangen ist, so beginnt die Ära des globalen Nordens mit der Kapitulation vor der Infrastruktur. Athen bildet den Knotenpunkt, an dem diese zwei nicht-realisierbaren Zeitlichkeiten kollidieren, und das Geschehen im Athener Untergrund zeugt von der Schwierigkeit, zwei gleichermaßen idealisierte und unerreichbare, jedoch ihrem Wesen nach grundlegend verschiedene Zeitlichkeiten miteinander in Einklang bringen zu wollen.
Die Erfahrung der Endlosigkeit in beiden Bereichen hat ein Konzept der Unerfüllbarkeit zur Folge. Wir machen hier einen Drei-Stufen-Prozess aus, der direkt aus dem Einwirken auf die Erde und dem dadurch entstandenen Schaden herrührt. Die Stadt verliert zunächst die Welt, die ihr versprochen wurde und nach der sie gesucht hat, wird aber gleichzeitig auch daran gehindert, in eine mögliche planbare Zukunft zu investieren. Zu guter Letzt beschreibt das Unvermögen, der zweifachen Zeitstruktur ihres Untergrunds gerecht zu werden, Athen als Möglichkeitsraum für eine alternative Gegenwart. Mit anderen Worten: Das Geschehen an der lebendigen Oberfläche der Stadt könnte dazu beitragen, den Konflikt in ihren Tiefen zu überwinden.
In Athen bestimmt heute ein deterritorialisiertes System von Datenflüssen die lokalen Eigenschaften einer aktualisierten Infrastruktur neu und setzt schließlich dem dramatischen Kampf zwischen den Mechanismen des Ausgrabens und denjenigen des Installierens ein Ende.
In der Tat: Das heutige Athen kann als ein Unfall der globalen Infrastruktur gedeutet werden, auf dessen Basis sich die Stadt neu verorten muss und kann. Athen ist nicht mehr nur Umschlagplatz für Investitionen in seinen Untergrund. Dies zum einen, weil archäologische Projekte nicht mehr im gewohnten Maße gefördert werden und auch in der imaginären Institution Öffentlichkeit nicht länger die Zustimmung von einst finden. Zum anderen weist die Infrastruktur der Stadt vermehrt Zeichen der heutigen hegemonialen Strategien auf, die die Idee des gemeinschaftlichen Nutzens, eines der grundlegenden Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft, nunmehr der Logik des Neoliberalismus unterwerfen.
In diesem Zuge wandelt sich auch die Infrastruktur zu einer kapitalistischen Maschinerie. Ist es einst ihre Aufgabe gewesen, die Wasser- und Stromversorgung zu organisieren, so besteht heute das wesentliche Aktionsfeld der Infrastruktur im Verwalten von Informationen, die nicht zuletzt der Regulierung des Kapitalflusses dienen. Wo Geld zur elektronisch übertragbaren Information wird, da wächst der Infrastruktur, indem sie in den Stand gesetzt wird, diesen Fluss zu blockieren, eine inhärente Straffunktion zu. Die neue Macht des globalen Nordens rührt aus der Fähigkeit zur Regulierung dieser Datenflüsse her, indem sie ihm erlaubt, die subalterne Stadt von den Privilegien der Infrastruktur auszuschließen oder sie von den Rändern ihrer Mechanismen her zu attackieren und zu bestrafen.
Vor dem Hintergrund des aktuellen Geschehens lenkt die Auseinandersetzung mit der Gründungsgeschichte des neuzeitlichen Athens als Hauptstadt eines neu gegründeten Staates den Blick auf die weiterreichenden Strukturen des hegemonialen Westens und verdeutlicht gleichzeitig die Mechanismen der Herausbildung des globalen Nordens.
Vor dem Hintergrund jeder Betrachtungsweise war Griechenland immer angesiedelt an der Demarkationslinie zwischen zwei entgegengesetzten Sphären, die das hegemoniale Narrativ definiert und konstruiert. Weder war das Land jemals ganz aus der hegemonialen Sphäre ausgeschlossen, noch hat es jemals gänzlich der subalternen Sphäre zugehört. Weder war das neuzeitliche Griechenland jemals ein östliches oder orientalisches Land, noch repräsentiert es ein durchschlagendes Beispiel für den heute randständigen Süden. Athen war vielmehr lange Zeit die Stadt, aus der der Westen seine – wenn auch nur symbolische – Legitimation bezogen und anhand deren er sich als Gegenpol des Ostens definiert hat; dies ungeachtet der Tatsache, dass Athen bis ins frühe 19. Jahrhundert eine Stadt dieses Ostens gewesen ist.
An der Nahtstelle zwischen Nord und Süd verortet sich Griechenland an einem Punkt, an dem die Fäden des globalen Netzes auseinanderreißen, und damit in einer Position, an der sich eine neue geografische Ordnung formieren kann. Was bleibt, ist die Aufgabe, die exakte Position des Landes innerhalb dieser neuen Ordnung zu definieren, etwa in Regulation seiner Beziehung innerhalb einer globalen Infrastruktur, die einen neuen Typus der Modernisierung und Kolonisierung hervorgebracht hat.
Wenn wir hier Athen zu verorten suchen, indem wir den Boden der Stadt fokussieren, so stellt sich dieser Boden als weitaus zu abstrakt und generisch dar, als dass er lediglich vor dem Hintergrund lokaler Gegebenheiten zu fassen wäre. Wenn keimeno das Wort ist, das sowohl gestürzte Materie als auch eine liegende Spur beschreibt, so gleicht ein Spaziergang durch Athen einem Leseakt, der dem aufmerksamen Flaneur auferlegt wird.
Ein Text kann niemals als Ganzes erschlossen werden, nicht mehr sein als eine flüchtige Referenz zu einer sich stetig ändernden Bedeutung außerhalb seiner selbst. Dem Blick des aufmerksamen Spaziergängers entgeht folglich auch nicht die Tatsache, dass dieser Boden verschuldet ist. Aber um welche Art von Schulden handelt es sich konkret? Was schuldet ein Athener Bürgersteig?
Athen hat noch aus den Zeiten seiner Gründung als Hauptstadt des neuen Griechenlands eine Bringschuld zu leisten, insbesondere gegenüber den Überresten aus seiner Vergangenheit. Es hat überstürzt und voreilig das Gewand des Städtischen über seinen Ruinen bergenden Boden geworfen, weshalb heute die asphaltierten Straßen und Bürgersteige mehr als nur die Enthüllung zahlreicher Ruinen und Fundstücke schulden. Wenn wir heute den Boden Athens als Bühne für die Entfaltung der aktuellen Lebenswirklichkeit der Stadt begreifen, so drängt sich eine weitere Referenz auf: Jacques Derridas leitmotivischer Satz „Nous nous devons à la mort“ (Wir schulden uns dem Tod) aus seiner Abhandlung Demeure, Athènes (1996; dt. Bleibe, Athen, 20102). (Dieser Exkurs Derridas in die Fotografie und seine Gedanken über die Stadt könnten ebenso als eine Performanz der Ruinen gedeutet werden.)
Aber ein Akt, der sich unterhalb des Stadtbodens vollzogen hat, beschreibt nicht nur ein idiosynkratisches Moment innerhalb einer Gegenwart, die sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft negiert; dieser Akt bezieht sich auch auf eine sichtbare Oberfläche und auf einen bestimmten Moment in ihr. Folglich verweist er auf eine andere Tradition der Fundstücke und eröffnet eine neue Perspektive auf eine anders geartete Infrastruktur – ein Akt also, der die globalen Fragestellungen komprimiert, die der lokale Boden aufwirft.
Es ist offensichtlich: Die Infrastruktur Athens liegt im Widerstreit mit der Idealisierung seiner Ruinen, und die zahlreichen Relikte behindern das Wachstum der Infrastruktur, versperren ihr den Weg. Einige Meter unterhalb der begehbaren Straßen spielt sich ein unsichtbarer Krieg ab, der einen der heutigen Kultur inhärenten Konflikt beleuchten kann. Die Ruine und die Infrastruktur stehen für zwei Systeme, die zwei gänzlich unterschiedliche Vorstellungen vom Heutigen bestimmen.
Der Athener Untergrund hat als Bühne für die Austragung dieses Konflikts gedient; heute stellt er sich uns als eine noch immer unbeantwortete Frage dar, die nun auf die Oberfläche der Stadt verweist. Die Athener Archäologie hat eine Sichtweise methodisch organisiert, mit dem heute jedes beliebige Objekt fokussiert werden kann: Alles, was die Stadt zu bieten hat, kann als ein zu inspizierendes Fundstück betrachtet werden, jedes noch so banale Element der Stadt eröffnet die Möglichkeit einer Investigation. Die Archäologie mag sich aus Athen verabschieden, doch sie kehrt wieder als System von Katalogen und Archiven, Matrizen und Einträgen. Das Scheitern der Archäologie ist eine Erfahrung purer Kunst, sofern es so etwas wie pure Kunst überhaupt geben kann.
Die ersten, die sich abschätzig über die archäologischen Funde in Griechenland äußerten, waren griechische Intellektuelle, deren Texte sich jeglichem Versuch widersetzen, sie als Anhänger des orientalischen Erbes oder des konservativen griechisch-orthodoxen Christentums einzuordnen. Ganz im Gegenteil: Das Denken dieser Kritiker ist durchweg maßgeblich von der europäischen beziehungsweise der westlichen Tradition geprägt.
Der Dichter und Kunsthistoriker Nicolas Calas, 1907 in Lausanne geboren, schlug in seinem 1933 veröffentlichten Gedicht „Akropolis“ als einer der Ersten die Zerstörung des Parthenons vor. Der Dandy Georgios Makris, ein äußerst eigensinniger Intellektueller und Dichter, veröffentlichte gleichfalls ein Manifest, in dem er die Sprengung sämtlicher antiken Monumente und Statuen einforderte: „Unser Ziel ist die Zerstörung des Parthenon, denn letztlich möchten wir nichts anderes als ihn der Ewigkeit übergeben, welche ein unbewusstes standardisee [sic] Fließen ist und auf mannigfaltige Weise Materie erzeugt, die wir zu Unrecht als Chaos bezeichnen.“3
Die Perspektive, die sie einnehmen, spiegelt einen bestimmten Aspekt westlicher Modernität wider und evoziert unwillkürlich Georg Lukács’ Konzeption der „transzendentalen Obdachlosigkeit“. Anhand dieses Begriffs unternimmt Lukács den Versuch einer Kritik der deutschen Romantiker wie auch der Schriftsteller seiner Zeit, die in ihren Texten nach einer verlorenen Heimstatt oder einem „verlorenen Paradies“ suchten. Der Vorschlag von Calas und Makris befürwortete eine Ästhetik, die sich niemals mit einem vorgegebenen Wert begnügt und sich jeglichem Versuch, das Selbst über das Heimische zu definieren, verweigert.
In der zunächst großen und anschließend leeren Athener Landschaft des 19. Jahrhunderts wurden drei emblematische Orte zu Eckpunkten des Dreiecks der neuzeitlichen Stadt, wie sie von Kleanthis und Schaubert visioniert wurde. Das Dreieck war geometrisch so ausgerichtet, dass es den Blick des Betrachters auf seine Spitze, also direkt auf die Akropolis, lenken sollte. Die anderen zwei Punkte bildeten der antike Friedhof Kerameikos und der Königspalast des bayerischen Prinzen – der heute das griechische Parlament beherbergt –, beides Standorte, von denen aus sich ehemals eine ungehinderte Sicht auf die Akropolis bot.
Mittels dieser Geometrie wurde folglich eine direkte Verbindung zwischen der neuen Hauptstadt und den antiken griechischen Ruinen hergestellt. Das Dreieck organisiert die Stadt in Referenz zu den Überresten aus der griechischen Antike, als materielle Inszenierung des griechischen und auch europäischen Ursprungs. Der emblematische Verweis auf Athen als Ursprung der europäischen Zivilisation sollte die zeitgenössischen griechischen Bürger mit den europäischen Königshäusern, die über sie herrschten, vereinen.
Die Weichen für eine Konfrontation zwischen dem Hegemonialen und dem Subalternen werden gestellt, sobald der Fremde seinen Blick auf diese Landschaft richtet. Denn nun wird der fremde Blick zum medizinischen Werkzeug, das bereit ist, einen invasiven Eingriff durchzuführen. Dieser Blick verfolgt ein Ziel: die symbolische Rekonstruktion des urbanen Gefüges als Installation seiner selbst.
Die Operation gestaltet sich in Form einer hypothetischen Demontage des Machtlosen im Interesse der Installation des Mächtigen, in unserem Fall der Ersetzung osmanischer Symbole durch solche eines Euro-Hellenismus. Allerdings handelt es sich hierbei um weitaus mehr als nur um einen gewöhnlichen Machtwechsel.
Hier wird das „Reale“ dem „Idealen“ geopfert, das Materielle dem Immateriellen, das Sichtbare dem Unsichtbaren. Dieses Muster vollzieht sich so lange, bis alle Unterschiede unwiederbringlich aufgehoben sind. Der Idealismus hat sich als äußerst wirksames Mittel bewährt, um die Rolle Athens unter einem bayerischen Regenten als Hauptstadt Griechenlands zu festigen.
Die Verortung Athens innerhalb eines deutschen Kontextes hat sich zudem weitaus einfacher gestaltet, als es vor dem Hintergrund eines lokalen Kontextes möglich gewesen wäre. „Alle Völker, die eine Geschichte haben, haben ein Paradies, einen Stand der Unschuld, ein goldnes Alter“, konstatierte Friedrich Schiller in seiner 1795 in der von ihm herausgegebenen Monatszeitschrift Die Horen – die für die deutschen Romantiker wegbereitend wurde – veröffentlichten Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“4, bevor er zu dem Schluss gelangte: „Alle Wirklichkeit bleibt hinter dem Ideale zurück“. Im Fall von Athen erfolgte die Rekonstruktion der Antike zeitgleich mit der Geburt der Stadt als neuzeitlicher Metropole.
Wenn wir davon ausgehen, dass die Dominanz des Nordens über den Süden sich als Kluft zwischen den Mächtigen und den Machtlosen konstituiert, so steht diese Trennlinie, mittels deren die Welt in zwei Sphären eingeteilt wird, ebenso für die materielle wie für die geografische Dimension dieses Dominanzverhältnisses. Anders als in Tijuana jedoch, wo eine geografische Grenze – die zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko – den Übergang von der einen Sphäre in die andere markiert, gibt es in Griechenland keinerlei physische Grenze, die diese Trennung als solche kenntlich machen würde.
Der Riss, der sich durch Athen zieht, konstituiert vielmehr ein abstraktes freudianisches Duo, ähnlich der Dominanzbeziehung zwischen Vater und Sohn. Der „Vater“ fungiert in Athen jedoch nicht als eine Referenz, die auf eine natürliche Person rekurrierte und dem Selbst eine bestimmte Eigenwahrnehmung auferlegte. Der „Vater“ ist nicht jemand, der benennt, Gesetze erlässt und die bestehende Weltordnung aufrechterhält. Ganz im Gegenteil: Diese Vaterfigur bezieht ihre Benennung aus einer anderen Ordnung.
Wenn das Rekurrieren auf eine Vaterfigur eine notwendige Voraussetzung im Identifikationsprozess des Selbst darstellt, so ist sie im Fall von Athen nicht gegeben. Die Situation ist hier eine andere als etwa im Rom unter Mussolini, wo sich derartige patriarchale Beziehungsgeflechte um eine natürliche Person entsponnen. Der Versuch, der eigenen Stadt eine eindeutige, ununterbrochene Herkunftslinie zuzuschreiben, wird in Athen auf eine vollkommen andere Weise umgesetzt.
Die Beziehung zu einem Vorfahren wird mittels eines von außerhalb aufoktroyierten Konstrukts etabliert, weshalb wir dieses Vorgehen als Transplantation einer ideosynkratischen Erinnerung deuten möchten. Wir können beobachten, wie der Einheimische eingeladen wird, sich in das Kostüm des europäischen Vaters zu kleiden, der sich die fremdfabrizierte Gestalt des antiken griechischen Vorfahren anverwandelt hat. Der Einheimische findet sich nun unwillkürlich an dieser seltsamen Vaterfigur gemessen, die zu einem in vielerlei Hinsicht abwesenden Patriarchen geworden ist.
Das Athener Projekt einer Vater-Adoption und die damit einhergehende Konstruktion eines überzeugenden Narrativs könnten die „Deterritorialisierung des Einheimischen“ betitelt werden. Dies hätte ein durchaus interessantes Projekt sein können, wäre es mit der Weigerung einhergegangen, den „Vater“ in seinem oben beschriebenen Auftreten als solchen anzuerkennen. Doch auch so können wir diesem pervertierten Blick auf die Vergangenheit durchaus etwas Positives abgewinnen: Die Athener lernen nicht nur nach und nach, ihre Umgebung mit den Augen eines Fremden zu betrachten, sie beginnen auch, ihr denselben Wert beizumessen wie jener.
Allerdings nimmt dieses Projekt eine unvorhergesehene Wendung: Diese Trennung von der vertrauten Erfahrung der eigenen Umgebung bildet das erste Glied in einer Kette von Enttäuschungen, die in Analogie zu der berüchtigten Reise Hyperions ins eigene Land betrachtet werden kann. Da es sich um eine bewegungslose Reise handelt, ist die damit einhergehende Enttäuschung vorherbestimmt; diese Reise wird sich als Fehler in das Bewusstsein einschreiben, als Deterritorialisierungserfahrung des Selbst.
Nicht zuletzt ist die Ursache für die dramatische Zurschaustellung der Enttäuschung über die Performanz des zeitgenössischen Griechenlands in dieser eigenwilligen Konstruktion zu suchen, die aus dem Land eine Projektionsfläche Europas machte. Diese Konstruktion ging mit einer Entwurzelung aus vertrautem Grund einher, die jedoch von gänzlich anderer Art ist als die von Oswald Spengler zu Beginn des 20. Jahrhunderts angekündigte.5
Während Spengler die Entwurzelung des westlichen Menschen in der Ablehnung jeglicher Tradition begründet sieht, ist die Entwurzelung der heutigen Griechen auf die Tatsache zurückzuführen, dass ihr Land als amateurhafte Reinszenierung der antiken Tradition in die Neuzeit eingeführt wurde. Es ist eine Reinszenierung, die die Vielfalt der bestehenden lokalen Traditionen leugnet und mit Eifer darauf bedacht ist, sie durch eine einzige Tradition, und zwar eine klassisch-europäische, zu ersetzen.
In den Ruinen der Insel Makronisos, wohin unter den diktatorischen Regimen des 20. Jahrhunderts politische Dissidenten verbannt wurden (die Bezeichnung der Insel als „neuer Parthenon“ war unter den Obristen geläufig; sie diente dazu, im Offiziersjargon die militärischen „Rehabilitationsprogramme“ der späten 1940er Jahre während der Regierungszeit von Themistoklis Sofoulis zu umschreiben), findet sich in einem ehemaligen Polizeihauptquartier immer noch die Aufschrift Η ΤΑΝ Η ΕΠΙ ΤΑΣ (sinngemäß: [Kehre zurück] entweder als Sieger oder tot). Für die neuen Griechen sind die alten Vorfahren mehr als nur Rollenmodelle; sie repräsentieren die Abstammungslinien, die es auf Leben und Tod zu verteidigen gilt.
Und dennoch wäre es fatal, zu ignorieren, dass dieser übertriebene Nationalstolz auf einen europäischen Grundgedanken zurückzuführen ist: auf das Bestreben, einer globalen kulturellen Tradition einen spezifischen Ort zuzuweisen, um sie sodann in eine Kultur dieses Ortes zu transformieren. Hierdurch wird es unmöglich, eine sichere Aussage über diesen Ort zu treffen. Wenn „Griechenland“ der Name für das Konzept eines Europas der Texte und Ruinen ist, so erscheint es notwendig, den Blick auf den Unterschied zwischen der immateriellen Präsenz der Texte und der allgegenwärtigen materiellen Präsenz der Athener Ruinen zu richten, die wir lesen als Zeichen des Verfalls und folglich als Negation einer idealen Konfiguration des antiken Griechenlands. Die Beflissenheit, mit der Europa den Versuch unternommen hat, einen Ort bar jeder lokalen Eigenschaften zu konstruieren, mündete schließlich in einen neuen Typus des konservativen Regionalismus: Der universelle Charakter des antiken Griechenlands, den Europa angestrebt hat, hat wurde vom neuen Griechenland als lokales Privileg der Glorifikation dieser besonderen Vorfahren interpretiert.