Muamer Zukorlic ist ein stolzer Mann und ein frommer Muslim. Ausgebildet in Tunesien und Libanon, war er jahrzehntelang ein einflussreicher Mufti in der westserbischen Region Sandschak. Heute ist er Parlamentarier, Vorsitzender einer Privatuniversität und ein Verbündeter der Regierung in Belgrad. Seine Gegner sagen, er kontrolliere den Sandschak wie sein privates Eigentum. An einem sonnigen Herbsttag sitzt Zukorlic in Novi Pazar vor dem Café Gaziya, aus dem türkische Musik klingt. «Es ist uns im Sandschak gelungen, die Einflüsse von Fremden von unserer islamischen Gemeinschaft fernzuhalten», sagt der charismatische Mittvierziger. «Ich denke da an die Saudi, aber auch an die Türken – obwohl wir die nicht einfach als Fremde bezeichnen können.» Heute sei er doppelt froh, dass die Strategie aufgegangen sei: Wer in der Region unter dem Einfluss der Türkei stehe, sei jetzt auch von deren inneren Konflikten betroffen. «Vor allem jene, die von der Nähe zu Fethullah Gülen profitiert haben, bezahlen die Zeche.»
Neoosmanisches Projekt
Muamer Zukorlic bringt es auf den Punkt: In den letzten zwanzig Jahren hat die Türkei ihren Einfluss auf dem Balkan stetig vergrössert. Seit der Machtübernahme von Erdogan 2003 betont das Land gegenüber muslimischen Gesellschaften die kulturellen und historischen Verbindungen. Dabei wird die gemeinsame Vergangenheit der Region im Osmanischen Reich in neuem und günstigem Licht gezeigt. Hunderte von Baudenkmälern aus der Epoche wurden gerettet und oft aufwendig restauriert. Die Türkei präsentierte sich nicht nur als Erbe imperialer Tradition, sondern auch als moderner, wachstumsorientierter muslimischer Staat, der Religion und wirtschaftlichen Fortschritt mühelos vereint. Es wurden enge Verbindungen zu islamischen Religionsgemeinschaften auf dem Balkan geknüpft und ein Netz qualitativ hochstehender Schulen unter türkischer Leitung etabliert. Zu Recht wird dieses Programm gelegentlich als «neoosmanisch» bezeichnet, denn es verbindet den Rückgriff auf Tradition und Geschichte mit dem Ziel, den politischen und ideologischen Einfluss der Türkei zu vergrössern. Was den Bildungsbereich betrifft, leistet das Land zweifellos einen Beitrag zur Modernisierung der muslimischen Gesellschaften auf dem Balkan.
Heute sind es genau diese Verbindungen zwischen der Türkei und dem Westbalkan, die den innertürkischen Konflikt zwischen Erdogan und der Gülen-Bewegung nach Bosnien-Herzegowina, Albanien, Kosovo und Mazedonien hineingetragen haben. Am heftigsten wird um die vierzig Schulen und Bildungseinrichtungen aller Stufen gestritten, die laut türkischen Angaben zur Hizmet-Bewegung von Fethullah Gülen gehören. Fünfzehn dieser Institutionen befinden sich in Bosnien, zwölf in Albanien, sieben in Mazedonien, fünf in Kosovo und eine in Serbien. In den Bildungslandschaften dieser Länder haben sie dank ihrer Qualität in der Lehre und der grosszügigen Ausstattung eine herausragende Position. Sie bieten ein säkulares Curriculum auf hohem Niveau an, das klar über jenem der staatlichen und auch der meisten privaten Schulen liegt. Die Qualität und die nicht billigen Schulgebühren bringen mit sich, dass viele der Schüler aus den lokalen Eliten stammen. Es gibt aber grosszügige Stipendienprogramme, die es begabten Kindern aus einfachen Verhältnissen erlauben, vom Kindergarten bis zur Universität eine überdurchschnittliche Ausbildung zu erhalten. Einige dieser Schulen bekennen sich offen zu Gülens Hizmet-Bewegung und deren Werten, andere bestreiten, irgendetwas mit dem Prediger zu tun zu haben.
Schon kurz nach dem Zerwürfnis mit Gülen Ende 2013 begann Erdogan über seine Botschaften Druck auf die lokalen Behörden zu machen, alle Hizmet zugerechneten Einrichtungen – säkulare und religiöse Bildungseinrichtungen, aber auch Firmen aller Art – zu schliessen. Seit dem Militärputsch im Juli, nach türkischer Lesart von Gülen angezettelt, wurde der Druck massiv verstärkt. Doch die Regierungen der betroffenen Länder reagieren sehr unterschiedlich auf die türkischen Zumutungen. In Albanien und Kosovo werden Ankaras Initiativen als Einmischung in innere Angelegenheiten betrachtet, die man sich höflich oder auch unverblümt verbittet. In Bosnien – wo der bosniakische Vertreter im Präsidium enge persönliche und ideologische Beziehungen zu Erdogan pflegt – versucht man den Türken so weit als möglich entgegenzukommen, ohne als Befehlsempfänger zu erscheinen. In Mazedonien – einem mehrheitlich christlichen Land – gibt man sich der Türkei gegenüber extrem flexibel: Man suche nach Wegen, diese Schulen zu schliessen, sagte Innenminister Mitko Cavkov nach dem Putsch.
Besorgter Schuldirektor
Das beunruhigt natürlich den Direktor der Yahya-Kemal-Schule in Skopje-Karpos, Ismail Erdil. Er führt stolz durch sein modernes, lichtdurchflutetes Schulgebäude. Er zeigt die IT-Labors, die Spezialräume für den Unterricht in Naturwissenschaften und die Baustelle, auf der eine grosse Sporthalle entsteht. 754 Schüler lernten hier neben dem regulären Schulstoff auch die Hizmet-Werte von Dialog, Respekt und Toleranz zu verinnerlichen. «Als 2001 Mazedonier und Albaner aufeinander schossen, sassen hier die Schüler aus diesen Volksgruppen in der gleichen Schulbank», erzählt Surija Tauk, der langjährige PR-Verantwortliche. Auf Gülen angesprochen, sagt der Direktor: «Wir bewundern seine Philosophie und folgen ihr. Aber das bedeutet nicht, dass wir Teil seiner Organisation sind.»
Unmittelbar nach dem Putsch im Sommer hätten fünf Mitarbeiter gekündigt, und 37 Kinder seien von der Schule genommen worden. Aber ihre Plätze seien bereits wieder besetzt. Einschneidend sei der Boykott durch die türkische Botschaft, die das Gespräch mit der Schule verweigere. Die meisten der sechzig türkischen Angestellten trauten sich nicht mehr in die Heimat zu reisen, aus Angst, verhaftet zu werden. Doch die Hoffnung hat der Direktor nicht aufgegeben. «Viele Politiker in Mazedonien schicken ihre Kinder an unsere Schule, die hätten auch ein Problem, wenn wir schliessen müssten.»
Der eigentliche «Hub» für den türkischen Einfluss in der Region ist aber Bosnien. Das liegt daran, dass dort der politische Islam Erdogans einen ideologischen Verbündeten in der SDA von Präsidiumsmitglied Bakir Izetbegovic hat. Erdogan unterstützt seinen «Bruder Bakir» regelmässig bei Wahlen. Die politischen und wirtschaftlichen Netzwerke zwischen den beiden sind eng. Anders als die zögerlichen Europäer versprach Izetbegovic Erdogan noch in der Putschnacht im Juli seine volle Unterstützung.
Erstmals legte Erdogan seinem Verbündeten die Schliessung der Gülen-Institute über die Parteikanäle nahe. Die sieben Schulen mit etwa 2000 Schülern und die Burch-Universität in Sarajevo als Flaggschiff unterstanden bis vor kurzem der gülenistischen Dachorganisation Bosna Sema. Doch Erdogans Aufforderung, die Schulen zuzusperren, konnte Izetbegovic nicht einfach befolgen. Er hätte sich vor seinen Gegnern damit als Lakai der Türken diskreditiert. Als die türkische Agentur Anadolu Bosna Sema als Anhängsel von «Fetö», der angeblichen terroristischen Fethullah-Organisation, bezeichnete, reichten die Verantwortlichen eine Klage ein. Bosna Sema streitet ab, mit «Fetö» verbunden zu sein. Ein Versuch, die Schulen unter das Dach der islamischen Gemeinschaft Bosniens zu manövrieren, scheiterte. Im Herbst wurde bekannt, die Schulen, von denen manche finanzielle Probleme hätten, seien von einer amerikanischen Investmentfirma namens US Global übernommen worden; es gibt klare Hinweise, dass diese Firma personell mit Gülens Organisation verbunden ist. Wenn sich das bestätigt, dann hat Gülen an Gülen verkauft.
Widerborstige Albaner
Anders als aus Mazedonien und Bosnien kommt aus Albanien und Kosovo hartnäckiger Widerstand gegen die türkischen Initiativen, den Gülenisten den Garaus zu machen. Er entstammt nicht der Sympathie zu Gülen, sondern der Ablehnung gegenüber Erdogan, dessen Politik auf dem Balkan viele als Versuch der Islamisierung der alten Untertanenländer bekämpfen. Viele Intellektuelle fürchten die Religion als einen Spaltpilz ihrer Nationen, die zwar mehrheitlich islamisch sind, aber auch katholische und orthodoxe Albaner einschliessen.
Als der türkische Botschafter in Pristina die Verhaftung eines kosovarischen Journalisten forderte, der Sympathien für die Putschisten geäussert hatte, bezeichnete das Aussenministerium die Forderung als inakzeptabel. Das Bildungsministerium lehnt die Schliessung der Mehmed-Akif-Schulen – laut Ankara Gülen-Institutionen – mit dem Argument ab, dass diese die Gesetze achteten, eine gute Bildung vermittelten und in religiösen Angelegenheiten tolerant seien. In Albanien ist die Lage ähnlich. Zwar signalisiert Ministerpräsident Edi Rama Verständnis gegenüber den türkischen Anliegen, aber umgesetzt werden sie nicht. Im November entschied das Erziehungsministerium bloss, die angeblichen Gülen-Schulen müssten die türkische Fahne einziehen.
Teile der Recherchen wurden von der Landis-&-Gyr-Stiftung unterstützt.
Die Macht der Türkei hat viele Gesichter
ahn. ⋅ Knapp achtzig Jahre nach dem Ende des Osmanischen Reichs auf europäischem Boden weckten in den neunziger Jahren die Jugoslawienkriege erneut das Interesse der Türkei am Balkan. Eher diskret wurden die muslimischen Bosniaken und Kosovo-Albaner von Ankara in ihren Auseinandersetzungen mit Serben und Kroaten unterstützt. Einen Aufbruch brachte der Machtantritt der AKP 2002. Sie brachte eine neue, religiöse Elite an die Macht, die einen ganz anderen Blick auf den Balkan hatte als ihre kemalistischen Vorgänger: Sie sah diesen nicht als Peripherie- und Problemzone, sondern als Kerngebiet des alten Reiches, aus dem viele seiner erfolgreichsten Wesire und Generäle stammten.
Eine neue Politik wurde formuliert, die mittels «soft power» Einfluss vor allem auf die grossteils säkularisierten Balkanmuslime gewinnen sollte. Ihre Instrumente sind die Religionsbehörde Diyanet, Agenturen der Entwicklungs- und Kulturpolitik und Bildungseinrichtungen. Diyanet knüpft ans gemeinsame osmanische Erbe an und spielt eine wichtige Rolle bei der Abwehr radikaler Einflüsse aus Saudiarabien. Der Bildungsexport trägt zur Modernisierung der muslimischen Gesellschaften auf dem Balkan bei. Unter Albanern und Bosniaken gibt es Befürworter und Gegner des türkischen Einflusses. Was sie im Kern unterscheidet, ist ihre Einstellung zum politischen Islam. Die zentrale Voraussetzung für Ankaras Rolle auf dem Balkan ist der Zweifel vieler Muslime, dass die EU je zur Aufnahme ihrer Länder bereit sein wird. Heute präsentiert sich die Türkei als eine illiberale Führer-Demokratie. Während der Einfluss der EU schwindet, entwickeln sich ähnliche Formen politischer Herrschaft auch im westlichen Balkan.