Milena Jana Gegios rezensiert das Buch von Philipp Ther: Die dunkle Seite der Nationalstaaten. „Ethnische Säuberungen“ im modernen Europa
Philipp Ther: Die dunkle Seite der Nationalstaaten. „Ethnische Säuberungen“ im modernen Europa
(= Synthesen, Bd. 5), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, 304 S.
Dass sich der Wiener Osteuropahistoriker Philipp Ther in seiner zuletzt erschienenen Monographie nicht in Euphemismen verfangen möchte, wird bereits auf den ersten Seiten deutlich. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit sensiblen Themen wie Flucht, Vertreibung oder Massenmord erfordert ein hohes Maß an Fachkenntnis, Hintergrundinformation und einen möglichst neutralen Blickwinkel. Ther nutzt seine einleitenden Bemerkungen, um seine Begriffe zu definieren, seine Thesen zu erläutern und den Bezug zu den verwendeten Quellen herzustellen. Demnach lassen sich ethnische Säuberungen weder mit einem Genozid gleichstellen, noch stellt der Begriff eine Verharmlosung des damit beschriebenen Phänomens dar. Im Gegenteil lassen sich laut Ther bei den ethnischen Säuberungen vier Varianten unterscheiden: Flucht, Vertreibung, Deportation und Zwangsaussiedlung. Ethnische Säuberungen sind für den Autor keine Erfindung totalitärer Diktaturen und stellen auch keinen Zivilisationsbruch dar. Vielmehr sind sie ein „Kind des Nationalstaates und damit ein zentraler Bestandteil der europäischen Moderne“ (S. 7).
Diese These zieht sich als roter Faden durch den empirischen Hauptteil des Buches, den Ther entlang von vier Perioden ethnischer Säuberung und dazugehöriger geographischer Schwerpunkten strukturiert. Periode eins (1912–1925) beginnt mit den Balkankriegen von 1912/1913 und endet mit dem Abkommen von Lausanne, der geographische Schwerpunkt liegt folglich auf Südosteuropa, ethnische Säuberung wird hier als „Mittel der internationalen Politik“ interpretiert (S. 69-106). Die zweite Periode (1938–1944) beginnt mit dem Münchner Abkommen und ist gekennzeichnet durch die deutsche Vorherrschaft in Europa. Im Mittelpunkt stehen „totale Kriege und totale Säuberungen“ hauptsächlich in den vom Deutschen Reich annektierten Gebieten, aber auch in Ost- und Südosteuropa (S.108-166). Die „saubere Nachkriegsordnung“ (1944–1948) wird in der dritten Periode thematisiert, sie reicht bis zum Ausbruch des Kalten Krieges (S. 168-233). Ther schließt mit einer vierten Periode (1991– 1999), die mit dem Zerfall Jugoslawiens beginnt, die „Geister der Vergangenheit“ in den anschließenden Ex-Jugoslawienkriegen wieder aufleben lässt. Hier bezieht er vergleichend die Konflikte im Kaukasus mit ein (S. 239-258). Diese zeitlich-räumliche Herangehensweise ist nicht ganz unbekannt; Holm Sundhaussen ging schon einmal nach diesem Muster vor.1
Interessant ist es, Thers Thesen denen von Norman Naimark gegenüberzustellen, einem Autor, auf den er mehrmals in den Fußnoten verweist.2 Ther relativiert nämlich die Rolle von Hass und Rachegefühlen als Auslöser für ethnische Säuberungen, während Naimark insbesondere Rachegefühle als einen essentiellen Analysebestandteil ansieht, wenn es um Vertreibung im engeren Sinne geht. Für Ther, beeinfluss(t)en solch emotionale Motive allenfalls die Art und Weise, wie ethnische Säuberungen ausgeführt wurden, stehen aber nicht im Mittelpunkt, wenn es um die Aufzeichnung von Tätern und ihren Motiven geht. Ther geht zudem davon aus, dass ethnische Säuberung zwar auf einen Genozid hinauslaufen kann, jedoch als unabhängiges Phänomen betrachtet werden muss. Naimark hingegen versteht ethnische Säuberung als integralen Bestandteil oder Vorstufe von Genozid. Letztendlich unterscheidet sich, so Naimark, ethnische Säuberung von Völkermord nur durch das Endziel, d. h. ethnische Säuberung geht dann in Völkermord über, wenn Massenmord begangen wird, um ein Land von einem Volk zu säubern.3 Es geht Naimark somit um den fließenden Übergang der beiden Termini bzw. Phänomene, denn „auch wenn Deportationen nicht vorsätzlich einen Völkermord herbeiführen sollen, haben sie dennoch oft diese Wirkung“.4 Vordergründig sind es feine Nuancen, die die beiden Historiker voneinander unterscheiden, nicht jedoch von der gegenseitigen Bezugnahme abhalten.
Philipp Ther ist es zweifelsfrei gelungen, einen chronologisch geordneten und kritisch erklärenden Überblick über die Thematik zu schaffen. Bemerkenswert ist der weit gespannte zeitliche und thematische Bogen, der auf knapp 300 Seiten auf nachvollziehbare Art und Weise vermittelt wird. Die angeführten Fallbeispiele bieten für das Fachpublikum zwar kein wirklich neues Material, sondern beruhen überwiegend auf Sekundärliteratur, jedoch wird der „Überblickscharakter“ dieser Monographie zum Alleinstellungsmerkmal unter bestehenden Werken. Ther beschreibt aus der Vogelperspektive, wobei die internationale Ebene zentral ist, wenn es um die Einordnung der verschiedenen Phasen von ethnischer Säuberung in einen Gesamtzusammenhang geht. Insofern ist eine detailliertere Beschreibung von Einzelheiten rein praktisch nicht möglich.
Es bleibt zu hoffen, dass das Buch eine breite Rezeption erfährt und sich der Wunsch des Autors nach gegenseitigem Verständnis in Europa für vergangenes Leid erfüllt (S. 298). Nicht unwichtig ist dafür, dass ausgerechnet die Präsidentin des Bunds der Vertriebenen, Erika Steinbach, die Entstehung dieses Werkes zu verhindern suchte.5 Die umstrittene CDU-Politikerin ist ohnehin nicht für ausgleichende und versöhnende Äußerungen bekannt; ihr Einschreiten hat indes die Notwendigkeit eines solchen Werkes unterstrichen, denn mit der Anerkennung vergangenen Leids werden nicht nur bisher marginalisierte Gruppen von Betroffenen sichtbar, sondern auch politische Interessen.
Anmerkungen:
1 H. Sundhaussen, Ethnische Zwangsmigration, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hrsg. vom Institut für Europäische Geschichte, Mainz, URL: http://www.ieg-ego.eu/sundhaussenh-2010-de, letzter Zugriff 23.07.2013.
2 N. M. Naimark, Flammender Hass. Ethnische Säuberung im 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main 2008 (Originalausgabe „Fires of Hatred. Ethnic Cleansing in Twentieth Century Europe”, Cambridge 2001).
3 Ebd.
4 Ebd. S. 12.
5 Wie DER SPIEGEL in seiner Ausgabe 10/2008 schrieb, hatte Erika Steinbach, den Autor bei seinem Verlag angeschwärzt, indem sie Ther ein „gestörtes Verhältnis“ zum Bund der Vertriebenen sowie ein zweifelhaftes Interesse an der Thematik Vertreibung unterstellte. Der Verlag sprach von einer „dreisten Einmischung“ und hielt am Vertrag mit Ther fest.