Formen der Koexistenz von Christen und Muslimen auf dem Balkan

Dr. Hermann Kandler
Griechisch-Thrakien: Der tuerkische Konsul von Komotini im Pomaken-Dorf Kotyli

Griechisch-Thrakien und Bosnien-Herzegowina im Vergleich

In einer Grafik in der Zeit (Abb.1) werden Südosteuropas Muslime als zu 63% eher gläubig eingestuft, an zweiter Stelle nach Zentralasien/GUS (95 %), was ein Hinweis auf die Wiederentdeckung der Religion in vormals die Religion ablehnenden sozialistischen Gesellschaftssystemen sein mag. Aber ist diese Zahl wirklich Ausdruck von Religiosität.

Die Auswertung einer EMNID-Erhebung (www.religionsmonitor.com) zeigt vielmehr, das bestimmte religiöse Merkmale ( Ehrfurcht, Angst, göttliche Nähe ) besonders im privaten Umfeld (Ehe, Erziehung, Speisevorschriften) von säkularen Idealen überlagert werden. Schon während des Krieges in Bosnien-Herzegowina (1992-1995 ) wurde klar, dass dies ein ethnisch-nationaler Konflikt ist. Die die Versäulung BiH s verstärkende Effekte waren nicht primär religiöser, sondern ethnisch-nationaler Art, wie z.b. der Kampf um eine bosnische Sprache.

Die heute bestehende faktische Dreiteilung des Landes und der Primat der ethnischen Gemeinschaft über das Individuum wurde im Vertrag von Dayton festgeschrieben, rekurriert aber letzten Endes auf das seit dem 19. Jahrhundert (s. Abb. 2) bestehende nationale Selbstverständnis, das sich aus einer seit der frühen Neuzeit bestehenden Zweiteilung nach krśćani, Christen, und turci, Türken, nicht Muslime!!, ergab.

Dieser quasi horizontalen Gliederung stehen Gesellschaft vertikaler Struktur gegenüber, wo Selbst- und Fremdverständnis Ausdruck von Dominanz einer Mehrheitsbevölkerung gegenüber einer sich generell benachteiligten oder benachteiligt fühlenden Minderheit ist, Beispiel Griechisch-Thrakien, wo einer griechisch-christlichen Mehrheit eine türkisch-muslimische Minderheit gegenübersteht.

Wie in BiH waren es auch hier Kriege, die eine muslimische Minderheit auf griechischem Gebiet hervorbrachten. Die griechischen-türkischen Kriege, in dessen Zuge Griechenland zunächst bis weit nach Anatolien vorrückte, um dann zurückgeschlagen und über Smyrna/Izmir vertrieben zu werden, wurde offiziell mit dem Lausanner Vertrag beendet. Eine seiner wichtigsten Vereinbarungen war der Bevölkerungsausstausch (30.01.1923) im Sinne Wilsons, der die Umsiedlung fast aller Griechen aus Kleinasien und vice versa beschloss – mit Ausnahme griechischer Enklaven auf türkischem Terrain und muslimischer Gebiete im heute griechischen Teil Thrakiens, die de jure als Minderheiten im jeweiligen Staatsgebilde geachtet werden sollten. Im Gegensatz zu BiH haben wir somit in Thrakien keine Gleichstellung zwischen den Volksgruppen, sondern ein Mehrheit-/Minderheitsverständnis, was andere Haltungen bzgl. Machtoptionen und Legitimation erzeugt.

Es ist bezeichnend, dass spätestens mit der Ansiedlung griechischer Flüchtlinge im vormals überwiegend muslimisch bewohnten Gebiet zwischen Nestos und Evros (s. Karte) die ersten Konflikte entstanden und die eigentlich indigene Bevölkerung als (religiös) andersartig erkannt und aus Frustration inhuman behandelt wurde. Es ist natürlich die Frage, ob das immer wieder als friedlich beschworene Zusammenleben zwischen Christen und Muslimen im osmanischen Reich nicht latente Spannungen barg. Bezeichnend ist jedoch nun, dass die Gegensätze nun zu offener Feindseligkeit führten. Auch wenn die guten Beziehungen zwischen Ministerpräsident Venizelos und Ata Türk an der Wende der 1930er Jahre Entspannung und eine gewisse Entfaltung der muslimisch-türkischen Kultur bedeutete, was sich zum Beispiel in der Gründung türkischsprachiger Zeitungen äußerte, wurde spätestens seit den 1950er Jahren klar, dass die Minderheiten auf türkischer wie griechischer Seite als Unterpfande gegenüber dem Rivalen diente. Die Zypernkrise, auf die an dieser Stelle nicht eingegangen werden soll, war der Anlass die Minderheit der jeweils anderen Nation zu schikanieren. Gleichzeitig wendete sich die so unterdrückte Minderheit ihrer Schutzmacht zu, was wiederum zu Misstrauen unter der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung führte.

Den Ereignissen in Zypern, der Zeit der griechischen Diktatur (1967-1974), und abermals der Frustration, die die Teilung Zyperns verursachte, folgten Repressalien für die Minderheit auf dem Fuße – Enteignungen, Benachteiligungen im Bildungswesen, Einschränkungen von Erwerbsrechten, Einschränkungen in der Ausübung religiöser Rechte, willkürliche Aberkennung der Staatsangehörigkeit. Erst Ende der 1980er Jahre,auf Druck von EU und internationaler Gemeinschaft, aber vor allem angesichts der tätlichen Übergriffe eines griechischen Mobs auf muslimische Mitbürger und deren Reaktionen begann Griechenland seine Haltung zur türkisch-muslimischen Minderheit zu überdenken. Bis heute aber ist eine Gleichstellung der muslimischen Staatsbürger mit ihren christlichen Nachbarn noch nicht erreicht, besteht Misstrauen zwischen Mehrheit und Minderheit.

Welche Auswirkungen die jahrzehntelange Benachteiligung hatte, zeigen beispielhaft zufällig ausgewählte Grafiken zu Bildungsabschluss (Abb.4) und Besitzverteilung (Abb.5) zwischen Christen und Muslimen.

Diese teilweise bedrückende Lage in Westthrakien im Allgemeinen und für die Muslime im Besonderen ist vor allem auf das Wirken Athens und Ankaras zurückzuführen, die neben Zypern und der Ägäis-Frage auch Thrakien immer wieder in ihre politischen Winkelzüge miteinbezogen, ohne Rücksicht auf das fragile Miteinander der Religionsgruppen in diesem Gebiet. Es liegt aber auf der Hand, das innerthrakische Agitation und Parteinahme von außen ein latentes Misstrauen zwischen den Gruppen fördert. Immer noch haftet Thrakien der Ruf des yan devlet oder parakratos an, eine Region, in der die staatliche Ordnung Seilschaften von Interessengruppen gegenübersteht, die Einfluss auf das politische und wirtschaftliche Leben in Thrakien nehmen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Minderheit immer wieder um Unterstützung durch die Türkei gegen griechische Willkür, als ihr ana vatan, Mutterland, bat. Dieser kam die Türkei gerne nach, hatte sie doch so einen Fuß in Griechenland. Das Vorhandensein von schwarzen Listen, auf denen unliebsame Westthrakier aufgeführt waren, zeigt, dass das Interesse der Türkei nicht nur selbstlos war. So zeigt sich, dass in Abhängigkeit der politischen Lage das Selbstverständnis der Minderheit eher muslimisch oder türkisch war. (Abb. 4). In Phasen politischer Spannung ist eine Verstärkung der Exklusivität durch die Mehrheit zu bemerken, was eine Versäulung der thrakischen Gemeinschaft einhergehend mit einer Betonung der nationalen, also türkischen Identität zur Folge hatte, während in Zeiten der Entspannung, vor allem nach der Erdbebendiplomatie Giorgos Papandreous und Ismail Cem s, die Identitätsfrage an Wirkkraft verliert und eher auf rechtlicher Ebene eine Rolle spielt, wie das Ringen um Anerkennung minderheitlicher Organisationen als türkische, nicht muslimische Verbände.

Dass Thrakien seine Bedeutung als politischer Zankapfel verloren hat, zeigt sich u.a. darin, dass das türkische Außenministerium seit 1999 Thrakien nicht mehr als solchen bezeichnet. Es wäre jedoch voreilig zu behaupten, dass die Minderheit die volle Gleichheit im Bürgerrecht (isonomia kai isopoliteia) bereits erreicht hat.

So stellt sich nun die Frage, auf welcher Basis das tatsächlich festzustellende tagtägliche Zusammenleben zwischen Muslimen und Christen oder Türken und Griechen ausgehandelt wird – angesichts der politischen Fragilität und den bestehenden kulturellen Unterschieden, die naturgemäß Vorbehalte gegenüber dem ethnisch und kulturell Anderen implizieren.

Das oben skizzierte Ungleichgewicht lässt zunächst Feindseligkeit, zumindest Sprachlosigkeit im Umgang zwischen Muslimen und Christen in Thrakien erwarten. Doch wie realisiert diese gemischtreligiöse Gesellschaft tatsächlich ihr Zusammenleben abseits des politischen Drucks von Innen und Außen?

Zunächst ist festzustellen, dass Christen und Muslime streng exklusiv wohnen, was sich dem Reisenden bereits im Siedlungsbild offenbart. Das Bild beherrschen monoreligiöse Ortschaften bzw. bireligiöse Gemeinden, die über religiöse einheitliche Ortsteile verfügen, was sich an den Pluralformen der Ortsnamen zeigt (Asomatos neben Asomatoi, Pagouria, Abb.6).

Auch wenn dass natürlich nicht zu verallgemeinern ist, erkennt man im Tabak- und Kirschenanpflanzer des Gebirgsrandes den typischen Muslim oder Türken, während der Baumwollpflanzer des Gebietes zwischen Ägäis und Rhodopen der Christ oder Grieche ist (Abb.6). Prinzipiell orientieren sich die Religionsgruppen an der jeweiligen Mutternation. Während natürlich Griechen sich an Athen und griechischen Maßstäben ausrichten, richten die Muslime ihr Augenmerk auf das anavatan, den Mutterstaat Türkei. Dies nicht nur auf politischer Ebene, sondern auch im Alltagsleben, sei es Sport, Erziehung oder Beruf. Dies ist der Grund, weshalb sich die Muslime Thrakiens, ohne den Gedanken an politischen Revanchismus, eher als Türken denn als Muslime fühlen. Es ist aber nicht verwunderlich, dass die Griechen diese Nähe zur Türkei musstrauen und ihre türkischen Nachbarn als fünfte Kolonne der Türkei betrachten. Diese Affiliation, die natürlich auf Seiten der Griechen ebenso besteht, verstärkt zunächst den Effekt der Exklusion.

Trotzdem ist diese bikommunale Gesellschaft verzahnter als zunächst erwartet. Überraschenderweise sind es hier die von den Menschen als ähnlich empfundenen Wertvorstellungen von Islam und griechischer Orthodoxie, die ein common sense zwischen den Menschen erzeugen, und wenn es die Tatsache ist, dass interreligiöse Ehen von beiden Seiten nicht akzepiert werden.

Um die Art und Weise der interreligiösen Kommunikation zu beschreiben, muss man sich an die Orte der Begegnung begeben. Sei es die Straße oder das Geschäft bei den Frauen oder die Kaffeehäuser für die Männer. Hier wird der einzelne als Nachbar weniger als Angehöriger der anderen Religion wahrgenommen. Es können an dieser Stelle nur Schlaglichter erzeugt werden. So attestierten die Christen eines bireligiösen Dorfes einem in Deutschland in einer Messerstecherei umgekommenen Türken, dass er ein kalo paidi, ein guter Junge war. Ob Floskel oder Aufrichtigkeit, die Teilnahme an der Trauer wurde bei den Türken geschätzt. Solche Gesten sind allen bewusst und so gehören gegenseitige Einladungen oder Grußadressen in den Medien zu Gemeinschaftsfesten (Fastenbrechen, Ostern, Weihnachten) zum guten Ton, und werden selbst Einladungen zu persönlichen Festen gemeinschaftsübergreifend ausgesprochen. Es zeigt sich sogar, dass bestimmte gemeinschaftliche Bindungen wie Gemeinde oder Zunftzugehörigkeit Netzwerke knüpft, die innerethnisch-religiöse überbieten. Der Zunftgenosse steht einem oft näher als der Volksgenosse und profitiert von Vergünstigungen. Dieses gelebte Miteinander manifestiert sich en passant in der Alltagssprache. Griechisch als Amtssprache ist fast jedem, mit Ausnahme größerer Teile von türkischen Frauen über 50 neben der Muttersprache geläufig. Auf griechischer Seite verfügt man aber auch, z.b auf geschäftlicher Ebene über genügend Kenntnisse des Türkischen, um eine zweigleisige Kommunikation zu führen. So kommt es nicht selten sogar zu Vermischungen der Sprachen, wo Anleihen aus der jeweils anderen Sprache genommen werden. Solche Interferenzen führen letztlich sogar zu syntaktischen Umstellungen, wie, wenn z.b. das türkische nach indoeuropäischer Syntax gebildet wird.

Es zeigt sich also, dass eine weitgehende Bereitschaft zur Kommunikation da ist und man nach Gemeinsamkeiten sucht. Die entscheidende Barriere bleibt aber nicht das religiöse, sondern das ethnische Element. Auf dieser ethnisch-nationalen Ebene bestehen schwer verrückbare Standpunkte, wie der Streit um die offizielle Nutzung des Attributs türkisch, oder die Qualifikation Griechisch zu sein als Voraussetzung für die Staatsbürgerschaft, zeigt.

Ist die historische Entwicklung BiH s weitgehend aufgearbeitet, fehlt es nach meiner Kenntnis – noch an ähnlichen Untersuchungen wie jene in Thrakien. Solche Feldforschungen sind auch erst machbar und sinnvoll, wenn ein gewisses Vertrauen, nicht nur zum Forschenden, sondern innerhalb der bikommunalen Gemeinde besteht. In Ansätzen bestehen Untersuchungen im Zuge von UN-Projekten, die jedoch kaum auf Feldforschung in bikommunalen Gemeinden beruhen. Sollten solche in Zukunft geplant werden, wäre es sinnvoll nicht nur die öffentlich-politische Ebene des Miteinanders zu beleuchten, sondern sich vor allem der informellen, privaten zu widmen. Denn gerade der private alltägliche Umgang miteinander prägt Selbst- und Fremdbild, bestimmt die Wertigkeit des Zusammenlebens weitaus mehr als Maßnahmen und Entscheidungen auf der politischen Ordnungsebene, die für außenstehende Dritte sich als entscheidend darstellen mögen.

  • Kandler, Hermann: Christen und Muslime in Thrakien, (= Berichte aus dem Arbeitsgebiet Entwicklungsforschung, Heft 34), Münster
  • Spiewak, Martin Vielen Dank für das Gespräch, Nr. 27
  • Steindorff, Ludwig: Von der Konfession zur Nation: Die Muslime in Bosnien-Herzegowina. Südosteuropa-Mitteilungen, 1997, Nr.4, 37.Jg., S.281

Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart
Im Schellenkönig 61
70194 Stuttgart
DEUTSCHLAND
20-22.11.2009

Abb. 1: Religiosität bei Muslimen in Deutschland, bes. Südosteuropa

Aus: Die Zeit, Nr. 27, , S.10

Abb. 2 Das Prinzip der Trikulturalität in Bosnien-Herzegowina

Steindorff, Ludwig: Von der Konfession zur Nation: Die Muslime in Bosnien-Herzegowina. Südosteuropa-Mitteilungen, 1997, Nr.4, 37.Jg., S.281

Abb.3 Griechisch-Thrakien

Kartenvorlage nach Cay Linau, Kartographie: K.Schmidt-Hellerau

Abb.4 Selbstbezeichnung der Minderheit in Relation zur politischen Lage

Abb. 5 Ausbildungsabschlüsse der muslimischen Bevölkerung des Ortes Dymi

Abb.6 Aufteilung der landwirtschaftlichen Fläche in der Gemarkung Pagouria nach Religionszugehörigkeit

Entwurf: H. Kandler,  Kartographie: K. Schmidt-Hellerau

Abb. 6 Bikommunale Gemeinde Pagouria

Abb.7 Gliederung des Nomos Rodopi nach Kulturraumzonen

Entwurf: H.Kandler, Kartographie: K.Schmidt-hellerau

Quellen:

http://docplayer.org/6765364-Formen-der-koexistenz-von-christen-und-muslimen-auf-dem-balkan.html

http://www.akademie-rs.de/fileadmin/user_upload/download_archive/interreligioeser-dialog/091120_kandler_koexistenz.pdf

Dr. Hermann Kandler  31. Mai 2017
Rubrik: Balkan/Osteuropa/Kaukasus

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