Der „Prager Frühling“ 1968 ist ein Vorläufer des „Arabischen Frühlings“, der im Dezember 2010 begonnenen Serie von Protesten, Aufständen und Revolutionen in der Arabischen Welt. Einziger Zweck dieser „Frühlinge“ war der Regime Change.
Emmanuel Sarides
In der Nacht zum 21. August 1968 überschritten Einheiten der sowjetischen, bulgarischen, polnischen und ungarischen Armeen die Grenzen der Tschechoslowakei und besetzten innerhalb von wenigen Stunden alle strategisch wichtigen Positionen des Landes.
Am gleichen Tag verbreitete die sowjetische Nachrichtenagentur TASS eine offizielle Erklärung zum Einmarsch von Truppen in die Tschechoslowakei: „TASS ist bevollmächtigt zu erklären, daß sich Persönlichkeiten der Partei und des Staates der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik an die Sowjetunion und die anderen verbündeten Staaten mit der Bitte gewandt haben, dem tschechoslowakischen Brudervolk dringend Hilfe, einschließlich der Hilfe durch bewaffnete Kräfte, zu gewähren. Dieser Appell wurde ausgelöst, weil die in der Verfassung festgelegte sozialistische Staatsordnung durch konterrevolutionäre Kräfte gefährdet wurde, die mit den dem Sozialismus feindlichen äußeren Kräften in eine Verschwörung getreten sind. … Die weitere Zuspitzung der Situation in der Tschechoslowakei berührt die Lebensinteressen der Sowjetunion und der anderen sozialistischen Länder, die Interessen der Sicherheit der Staaten der sozialistischen Gemeinschaft. Die Gefahr für die sozialistische Ordnung in der Tschechoslowakei ist gleichzeitig auch eine Gefahr für die Grundfesten des europäischen Friedens.“
Die Feststellung, die KPČ habe um den Einmarsch ersucht, wurde zwar dementiert. Etwas später bekannte sich aber eine Gruppe unter Führung von Vasil Bilak, von Januar bis August 1968 1. Sekretär der Kommunistischen Partei der Slowakei, dazu, um diese Hilfe ersucht zu haben.
Die DDR-Führung unterstützte die Aktion. Aber die Nationale Volksarmee der DDR beteiligte sich nicht, obwohl an der Grenze zur ČSSR zwei NVA-Divisionen bereitstanden. Etwa 30 Soldaten einer NVA-Nachrichteneinheit weilten während der Militäraktion im Führungsstab der Truppen auf dem Truppenübungsplatz Milovice. Ceauşescu verweigerte die Teilnahme rumänischer Truppen an der militärischen Aktion. Darüber hinaus verurteilte er am 21. August 1968 auf einer Massenveranstaltung in Bukarest die Besetzung der Tschechoslowakei mit scharfen Worten.
Der 1. Sekretär der KPČ Alexander Dubček wurde durch Gustáv Husák ersetzt. Die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei beschloß, keinen militärischen Widerstand zu leisten. Der Staatspräsident der Tschechoslowakei, Ludwik Svoboda, forderte Tschechen und Slowaken in einer Radioansprache dazu auf, Ruhe zu bewahren. Trotzdem gab es Widerstand. So wurden Ortstafeln und Straßenschilder verdreht, übermalt, zerschlagen oder abmontiert, so daß ortsunkundige Besatzer in falsche Richtungen geschickt wurden. Tschechoslowakische
Eisenbahner leiteten Nachschubzüge für die Sowjetarmee auf Abstellgleise. Bei der militärischen Aktion der Armeen des Warschauer Paktes starben 98 Tschechen und Slowaken sowie 50 Soldaten der vier Länder. Die NATO verhielt sich ruhig. Aber in den Medien der westlichen Welt wurde die Aktion scharf verurteilt.
Die historische Entwicklung in der ČSSR im Jahre 1968 wird bis heute unterschiedlich interpretiert, so als Versuch zur konterrevolutionären Beseitigung des realen Sozialismus in der Tschechoslowakei. Auch zum militärischen Eingreifen der Sowjetunion und anderer sozialistischer Staaten gehen die Meinungen auseinander. Das hängt vor allem damit zusammen, daß bis heute, auch unter Linken, die Auffassung verbreitet ist, daß durch dieses Reformprogramm der Führung der KPČ vom Frühjahr 1968 (das mit dem vom Westen geprägten Begriff „Prager Frühling“ in die Geschichte eingegangen ist) zu diesem Zeitpunkt in der ČSSR ein Sozialismus „mit menschlichem Antlitz“ errichtet worden sei. Demnach hätte ich also die ganze Zeit in einem Sozialismus „mit unmenschlichem Antlitz“ gelebt. Das bestreite ich entschieden, zumal mir nach den damals zugänglichen Informationen die Entwicklung in der ČSSR nicht gefiel. Behauptet wurde, daß es dort nunmehr unbegrenzte Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit gab. Das mag sein. Dadurch erhöhte sich aber auch der Einfluß westlicher Medien bedeutend. Sie konnten nun faktisch ungehindert wirken. Westliche „Berater“ gaben sich in Prag die Klinke in die Hand.
Die zentral geleitete Planwirtschaft sollte durch mehr Freiheiten für die Betriebe gelockert werden. Ähnliches gab es aber auch in der DDR mit dem Neuen Ökonomischen System. Ein großer Teil der politisch interessierten Bevölkerung in der ČSSR glaubte subjektiv den verschwommenen Visionen. Demokratie, Meinungs-, Rede- und Versammlungsfreiheit spielten für die Mehrheit der Bevölkerung allerdings eine zweitrangige Rolle, darauf sprachen vor allem Intellektuelle, Schriftsteller, Studenten und Journalisten an. Es herrschte Meinungsterror bis hin zum Rufmord, vor allem in Zeitungen, aber auch in Rundfunk- und Fernsehsendungen gegenüber jenen, die als „Konservative“ und „Dogmatiker“ bezeichnet wurden.
Es gibt die Auffassung, daß mit dem Ende des „Prager Frühlings“ die letzte Chance für den Sozialismus verspielt wurde. Auf die Frage, warum denn 1989, nur 21 Jahre später, diese Chance nicht genutzt wurde, gibt es meistens die Antwort: Da war es zu spät. Das ist nicht nachvollziehbar – oder nur dann, wenn eine Erneuerung des Sozialismus 1968 und später gar nicht beabsichtigt, sondern schon damals der Übergang zum Kapitalismus geplant war, wie er dann in der „samtenen Konter-Revolution“ vollzogen wurde.
Die Kräfte, die den Sozialismus in der ČSSR abschaffen wollten, versteckten sich hinter sozialistischen Phrasen. Ab Mitte der 70er Jahre legten Zdeněk Mlynář, früherer ZK-Sekretär der KPČ, Ota Šik, der als Wirtschaftsreformer des „Prager Frühlings“ galt, Jiři Pelikan und andere in diversen Publikationen die Karten offen auf den Tisch. Nach 1989 räumte Mlynář unumwunden ein, daß ein System eines westlich geprägten bürgerlich-demokratischen Parlamentarismus angestrebt worden war, und Šik erklärte die sozialistische Terminologie in seinem Reformprojekt als Feigenblatt, mit dem das Ziel, die Restauration des Kapitalismus, von Anfang an getarnt worden sei. Die eigentliche Zielstellung Šiks für die Wirtschaftsreform hat er inzwischen selbst offengelegt. Es ging um kapitalistische Marktwirtschaft.
Die umfangreiche Fach- und Memoirenliteratur hat bislang nichts zutage gefördert, was auch nur im entferntesten auf fundierte Konzepte zur Weiterentwicklung oder Reformierung des Sozialismus in der Tschechoslowakei hindeuten würde. Der Publizist Eduard Goldstücker sagte Anfang der 90er Jahre bei einem Vortrag im Haus der Tschechoslowakischen Kultur in Berlin: „Für uns waren Dubček und seine Leute nur eine Zwischenlösung, denn direkt – ohne diesen Umweg – eine freiheitlich demokratische Grundordnung zu schaffen, schien uns zu riskant. Aber diese strebten wir an, das war von Anfang an unser Ziel!“
Die inzwischen bekannten historischen Tatsachen belegen: Prag 1968 war nichts anderes als ein Probelauf für 1989.
Der Artikel wurde im „Rotfuchs“ vom August 2018 unter dem Titel „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ oder Konterrevolution? veröffentlicht. RotFuchs, August/September 2018, Seite 11