Trotz der jahrelangen Wirtschaftskrise leben in Griechenland jetzt Zehntausende Flüchtlinge. Und Hunderttausende junge Menschen wandern aus. Wie kann das zusammenpassen?
Die meisten Europäer wissen nicht, dass die Geschichte Griechenlands im 20. Jahrhundert auch eine Ein- und Auswanderungsgeschichte ist. Nur waren die ersten Einwanderer noch keine Ausländer, sondern Griechen der Diaspora. Die Ausländer kamen viel später, in den neunziger Jahren.
Die griechischen Einwanderer waren fast immer die Opfer von politischen Entscheidungen und falscher Politik. Der lange Marsch nach Griechenland begann im Jahr 1922 nach dem „Kleinasien-Desaster“. So nennt man in der griechischen Geschichte die wahnsinnige Idee der damaligen Regierung, Kleinasien zu erobern. Nach der Niederlage der griechischen Armee ergriffen viele Griechen die Flucht: Vor allem in der Gegend um Izmir und an der Ägäis-Küste der Türkei verließen sie ihr Land und ihre Häuser und zogen nach Griechenland.
Viele mehr kamen aber zwei Jahre später nach dem Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der neu gegründeten Republik Türkei. Es war der größte Bevölkerungsaustausch in der Weltgeschichte. Die Griechen aus Kleinasien und von der Schwarzmeerküste zahlten den Preis für die Normalisierung der griechisch-türkischen Beziehungen.
Die Vertriebenen und Flüchtlinge waren für die einheimische Bevölkerung eine Last. In den Dörfern zeigte man ihnen die kalte Schulter. Viele Schiffe, die die Einwanderer nach Griechenland brachten, mussten von einem Hafen in den nächsten fahren, weil die Bewohner die Häfen besetzten und verhinderten, dass die Einwanderer an Land gingen.
Dieser Reaktion lag weder Rassismus, noch Fremdenfeindlichkeit zugrunde. Vielmehr kämpften die einheimischen Griechen täglich um ihr Überleben, das Land lag in Scherben. Sie konnten ihr kärgliches, tägliches Brot nicht mit Neuankömmlingen teilen, denn es reichte nicht einmal für sie und ihre Kinder.
Gleichzeitig aber war Griechenland ein Auswanderungsland. Die Auswanderung fing sogar früher an, bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Griechen gingen in die USA, nach Australien und Kanada. In den fünfziger Jahren kam eine neue Auswanderungswelle, weil das Land nach dem Zweiten Weltkrieg und dem darauf folgenden Bürgerkrieg völlig ruiniert war. Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre wurde Deutschland das Zielland: Die Griechen gingen als Gastarbeiter nach Deutschland.
Griechenland lebte im Lauf seiner Geschichte zeitweilig in einem Oxymoron. Einerseits verließen die Griechen ihr Land, um anderswo Arbeit und bessere Lebensbedingungen zu finden. Andererseits wurde das Leben in Griechenland durch die Auswanderung nicht leichter, weil immer wieder Griechen der Diaspora als Vertriebene oder Flüchtlinge ins Land kamen.
Aus Sicht des Balkans war Griechenland ein Paradies
Im Film Die Ewigkeit und ein Tag von Theo Angelopoulos gibt es eine Szene, in der Kinder auf einen Zaun klettern und von dort aus die griechische Seite der Grenze beobachten. Der Film wurde 1998 gedreht und die Grenze ist die griechisch-albanische Grenze. Die Migration von Albanien nach Griechenland begann mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Regimes und setzte sich in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ununterbrochen fort. Albaner, und mit ihnen Bulgaren und Rumänen, waren die ersten nicht griechischen Einwanderer. Sie waren auch die ersten, die in kein krisengeschütteltes Land kamen, sondern in das Land des florierenden, fiktiven Reichtums.
Trotzdem war die Sorge der damaligen Regierung und der Bevölkerung sehr groß. Der Aufstieg der Neonazi-Partei Goldene Morgenröte begann während dieser Zeit und gewann schnell an Dynamik.
„Euch Griechen immer beneidet“
Das Misstrauen gegenüber unseren balkanischen Nachbarn hatte primär historische Gründe. Die Geschichte des Balkans ist eine Geschichte der Kriege und Animositäten. Die Wurzeln dieses gegenseitigen Misstrauens liegen im Balkannationalismus. Sowohl die Staaten als auch die Völker auf dem Balkan sind nationalistisch und haben wenig Vertrauen zueinander. Griechenland war das einzige Land des westlichen Bündnisses auf dem Balkan.
Vor Jahren sagte mir ein albanischer Taxifahrer: „Wir haben euch Griechen immer beneidet. Wir dachten, ihr lebt in einem Paradies, während wir in der Hölle schuften. Als die Grenze geöffnet wurde, war ich einer der ersten, der nach Griechenland gezogen ist.“
Sie glaubten also, sie seien ins Paradies gekommen. Nur dass die Hölle real und das Paradies fiktiv war. Das bekamen sie nach einigen Jahren zu ebenso zu spüren wie die Griechen.
Der Beitritt Griechenlands zur Währungsunion brachte auch die ersten Einwanderer aus Asien und Afrika. Griechenland war nicht mehr Balkan, sondern Europa, und diese Menschen wollten nach Europa. Das Einwanderungsproblem Griechenlands wurde „internationalisiert“.
Junge Griechen haben Mitleid mit den Flüchtlingen
Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt es zwischen den Vertriebenen und den Flüchtlingen der Vergangenheit und jenen, die jetzt nach Griechenland kommen?
Ein Flüchtlingskind im improvisierten Lager auf dem alten Athener Flughafengelände © Getty/Louisa Gouliamaki
Die wichtigste Gemeinsamkeit ist die Krise. Sowohl die vertriebenen Griechen im Jahr 1922, als auch die Opfer des Bevölkerungsaustauschs von 1924 kamen in ein von der Krise hart getroffenes Land. So wie die Flüchtlinge von heute.
Die Krise ist auf den Inseln Lesbos oder Chios, wo die Flüchtlinge ankommen, weniger zu spüren als in Athen. Der Schwerpunkt der Krise liegt in der Hauptstadt. Das Athener Zentrum ist mittlerweile zu einem riesigen Obdachlosenheim geworden. Man sieht überall Obdachlose, die auf den Bürgersteigen ihr Bett einrichten, sogar in Einkaufsstraßen wie der Stadiou-Straße.
Flüchtlinge heute viel freundlicher behandelt
Diese Obdachlosen sind keine Flüchtlinge, sondern Griechen. Die Flüchtlinge sind in Hotspots oder Aufnahmezentren untergebracht. Zwar sind die Lebensbedingungen in diesen Zentren oft kläglich, trotzdem müssen (oder dürfen) die Flüchtlinge nicht auf der Straße leben. Früher, als die Grenze in Idomeni das Ziel für die Weiterreise der Flüchtlinge war, besetzten die Flüchtlinge den Victoria-Platz, weil von dort aus die Bahn nach Idomeni schneller zu erreichen ist. Jetzt ist der Victoria-Platz frei, weil Idomeni gesperrt ist.
Die andere Gemeinsamkeit ist, dass die große Zahl der Neuankömmlinge Flüchtlinge sind und keine Migranten, genauso wie die griechischen Flüchtlinge Anfang des vorigen Jahrhunderts.
Und es gibt einen Unterschied. Die Flüchtlinge von heute werden viel freundlicher behandelt als die griechischen Einwanderer der zwanziger Jahre. Grund dafür ist, dass in vielen Ortschaften die Mehrheit der Bevölkerung aus ehemaligen Einwanderern besteht. Das gilt besonders für Lesbos. Der Schrecken von damals lebt als Narrativ in den Familien weiter. Griechen der jüngeren Generation haben Mitleid mit den Flüchtlingen, weil sie wissen, wie ihre Vorfahren gelitten haben.
Es ist interessant, dass die Beziehung zwischen den Flüchtlingsbewegungen und Krise auch das Verhältnis zwischen Ein- und Auswanderung neu belebt hat. Ähnlich wie Anfang des 20. Jahrhunderts ist Griechenland ein Einwanderungsland und zugleich ein Auswanderungsland. Auch heute verlassen junge Griechen ihr Land auf der Suche nach Arbeit irgendwo in der Welt. Der Unterschied liegt im Bildungsniveau. Weder sind diese jungen Leute arme Bauern, wie ihre Vorfahren der zwanziger Jahre, noch gehören sie zur Gastarbeitergeneration. Alle haben ein Studium, fast alle einen Master, manche sogar einen Doktortitel.
Weglaufen ist Teil unserer Geschichte
Ich höre oft, diese jungen Leute wanderten hauptsächlich nach Europa aus, und weil Griechenland zur EU gehört, sei das nicht so schlimm. Da machen wir es uns zu einfach. Bis die Krise vorbei ist, werden mindestens zwei Generationen aus Griechenland weglaufen sein, und das in einem Land mit einer alternden Bevölkerung. Weglaufen ist Teil unserer Geschichte.
Der große Unterschied zwischen damals und heute ist aber, dass für die neuen Flüchtlinge Griechenland die Eingangstür zu Europa ist. Alle früheren Flüchtlinge und Migranten wollten in Griechenland ein neues Leben beginnen, nicht nur die Griechen, sondern auch die Einwanderer aus den Balkanländern, besonders die Albaner. Die Flüchtlinge, die jetzt nach Griechenland kommen, wollen ihre Reise nach Europa fortsetzen. Und wenn sie Europa sagen, dann meinen sie vor allem Deutschland.
Das erinnert mich an meine Jugendjahre in Istanbul. Damals sagten die Türken, die aus der Provinz nach Istanbul kamen: „Die Steine und die Erde in Istanbul sind aus Gold.“ Die Flüchtlinge glauben ebenfalls, die Steine und die Erde Deutschlands seien aus Gold.
Ganz unrecht haben sie nicht. Denn wenn auch die Steine und die Erde Deutschlands nicht aus Gold sind, so hat Deutschland als einziges EU-Land eine Million Flüchtlinge aufgenommen. Welches andere EU-Land hat nur einen Bruchteil davon akzeptiert, Schweden ausgenommen?
Die meisten EU-Länder haben sich verschanzt, die Grenzen geschlossen, teilweise auch Mauern hochgezogen und schauen einfach weg. Diese Länder wären begeistert, wenn Griechenland und Italien stillschweigend zum Sammelbecken für Flüchtlinge würden, aber das darf man nicht laut sagen.
Das Weglaufen ist in der Geschichte Griechenlands zu einer Art antiken Tragödie geworden, die immer wieder neu aufgeführt wird. Kürzlich übten die Europäer mehrheitlich das Wegschauen. Das Weglaufen hat die Probleme Griechenlands nicht gelöst. Das Wegschauen wird das Flüchtlingsproblem auch nicht lösen.
International bekannt wurde der griechische Schriftsteller, Jahrgang 1937, durch seine Kriminalromane um den schrulligen Kommissar Kostas Charitos. Markaris, der Vater Armenier, die Mutter Griechin, ist in Istanbul geboren und aufgewachsen, dort besuchte er das österreichische Gymnasium. Ehe er zu schreiben begann, studierte er einige Jahre lang Volkswirtschaft. Er schreibt in griechischer, türkischer und deutscher Sprache. Seit den sechziger Jahren lebt er in Athen.
Lesbos – Der Traum vom Grexit Vor einem Jahr haben sich die Griechen in einem Referendum gegen weitere Sparmaßen entschieden. Die Regierung erließ aber weitere. Einige wünschen sich nun den Grexit. © Foto: Nikolia Apostolou