Gegen die Verrohung

Saša Stanišić
Saša Stanišić

Miljenko Jergovićs „Die unerhörte Geschichte meiner Familie“ ist ein großer Roman über Glück, Elend, Leid und Hass auf dem Balkan. Für Saša Stanišić, gewiss nicht der objektivste Kritiker, hat dieser Jahrhundertroman eine Million Seiten.

Miljenko Jergović wurde 1966 in Sarajewo geboren. Er schreibt vor allem in kroatischer Sprache.

Miljenko Jergović wurde 1966 in Sarajewo geboren. Er schreibt vor allem in kroatischer Sprache. © Alberto Cristofari/A3/contrasto/laif

Miljenko Jergovićs Unerhörte Geschichte meiner Familie ist, für mich, das monumentalste Buch, ein Buch von hunderttausend Seiten. Seine Motive und Geschichten haben sich in mir fortgeschrieben, die vielfältigen Handlungszweige haben Knospen getrieben und sich weiter verästelt. Sie schlagen ohnehin weit aus im Wirbelsturm der europäischen Vergangenheit, und im Auge des Sturms ruht die Stubler-Sippe, mehrere Generationen, der letzte Nachkomme: Miljenko Jergović.

Es ist das leichteste Buch, ein Buch von dreihunderttausend Seiten, und keine wiegt zu schwer. Jergović weiß, was er erzählen will und wie, er erzählt es geradeheraus. Wenn er sich einmal einer Sache unsicher ist, schreibt er auch die Unsicherheit unverschleiert auf. Er nennt die Dinge beim Namen und nicht beim Symbol, Bilder setzt er sparsam ein, da ist kein sprachlicher Firlefanz, keine Formulierungen der Art von „vielfältigen Handlungszweigen, die Knospen treiben und sich verästeln“.

Das ist ein Buch über die Stubler-Sippe, mit Karlo Stubler beginnt alles, einem Deutschen aus dem rumänischen Banat, der nicht an Gott glaubt und niemals im Kino war, und das ist ein Buch über seinen Sohn, den zweimal unglücklich verliebten Rudi – einmal ist es die eigene Cousine, ein anderes Mal eine junge Frau aus einer muslimischen Familie.

„Warum hassen sie uns so?“, fragt Karlo Stubler, nachdem die Verwandtschaft der jungen Frau erklärt, sie gäben sie lieber dem Tod als einem Mann, der einer anderen Religion angehört. Und damit ist auch schon so einiges Tragische gesagt darüber, wie religiöser Hokuspokus, Fremdbestimmung und Abgrenzung dem möglichen Glück im Weg stehen und das Schicksal des ethnischen und konfessionellen Mosaiks „Balkan“ prägen.

Rudi verbringt seine Zeit am liebsten in Caféhäusern, ein zarter Feigling, der an die Front gelangt, die deutsche Abstammung bestimmt die Seite, auf der er kämpfen soll. Rudi entkommt dem Tod knapp mit einer Schuhschachtel unterm Arm, in der nichts oder vielleicht alles steckt.

Das ist ein Buch über das Vielleicht, die Geschichte der Familie Stubler ist eine Spekulation, die Mutmaßung methodisch, auch die Mutmaßung über das, was verloren gegangen ist, was mit in den Tod genommen wurde. Jergović scheint es eher um Möglichkeiten als um Tatsachen zu gehen. Er sagt „Ich weiß es nicht“ und überbrückt das, was er nicht weiß, mit einem erfundenen Lebenslauf, einer Stimme aus dem Grab, einer Anverwandlung, und manchmal heißt es trotz alldem abschließend: „Ich weiß es nicht.“ Das meint er dann wirklich so. Vielleicht.

Denn das ist auch ein Buch über die Unmöglichkeit autobiografischen Erzählens, über die Möglichkeiten und Notwendigkeiten biografischer Fiktion und wie kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges, als auch in Sarajevo alles entschieden war, zwei Wehrmachtssoldaten einen Tag lang aus Tante Doležals Wohnung die Stadt durch Ferngläser beobachten und sich unnütze Notizen machen. Jergović weiß nicht, was sie gesehen haben. Tante Doležal wird Kaffee servieren, in dem sie neben der gebrannten Gerste auch ein paar echte Bohnen vermutet, sie wird es versäumen, die Soldaten nach ihren Namen zu fragen.

Permanenter Identitätsstress, der uns umbringt und rettet

Jergović ist ein listenreicher Autor, wenn es um die Verquickung von Erfindung und Dokument geht, seine Position als letzter Nachfahre nutzt er gekonnt – niemand kann ihm mehr widersprechen, nur er selbst, er korrigiert, bezichtigt sich der Lüge und des Verschweigens, um dann mit einer anderen vorgeblichen Wahrheit anzukommen und lautem Geschrei, weil die erfundene Wahrheit ihm beschönigend erscheint.

Vielleicht wäre das Glück der Familie Stubler größer gewesen, hätte die Großmutter des Erzählers, die resolute Olga Rejc, ihren Sohn Mladen nicht zur Waffen-SS geschickt. Olga irrte sich im Glauben, ihr Sohn habe bei den Deutschen eine größere Überlebenschance als bei den Partisanen. Ihre aus seinem Tod resultierenden Gewissensbisse breiten sich epidemisch aus, gehen auf Geschwister und Nachkommen über. Niemand kann den gefallenen Sohn ersetzen, alle sind Stellvertreter, die daran erinnern, dass es einer nicht geschafft hat, dass er zum Tod verurteilt wurde von der Zeit, von seiner Identität und von der eigenen Familie.

Die unerhörte Geschichte meiner Familie ist ein Buch über Schuld, über Schuldzuweisungen, über Unschuldige, über Migräne. Ein Buch über Religion, und zwar nicht als Opium des Volkes, sondern als tröstliche Folklore zur Unterhaltung der einfachen Leute, die sie dann doch zur Argumentationsvorlage für Hass und Ressentiments missbrauchen, als Unschuldige des Andersseins für schuldig befunden werden sollen. Das ist ein Buch darüber, wie der ehemalige Eisenbahner Karlo Stubler Zugunfälle voraussagen kann.

Jergović hat sich mit seiner Unerhörten Geschichte in Kroatien – dem Land, in dem er lebt und in dem Nationalismus und Schlimmeres nicht selten für eine Tugend gehalten wird und in dem er für viele als „Nestbeschmutzer“ gilt, da er sich über die mangelhafte Aufarbeitung der Rolle Kroatiens im Zweiten Weltkrieg kritisch geäußert hatte – noch ein wenig unbeliebter gemacht. Das ist eine gute Sache, denn für mich gibt es wenig Schlimmeres als Nationalismus und Schlimmeres, und das ist ein Buch auch darüber, über den Faschismus, falsche Helden und Siegertäter.

Jergović zeigt dabei aber nicht bloß auf andere, sondern auch auf sich, auf die eigene Familie. Er nimmt sich der Opportunisten an, der Hasserfüllten, der Naiven, der Berechnenden. Am liebsten aber erzählt er von denen, die für andere eingestanden sind, sich in den Dienst des Menschlichen gestellt haben, von den Couragierten, von Opapa Karlo, einem nationalbewussten Deutschen, der das Leben seiner serbischen Nachbarn rettete, indem er sie vor den kroatischen Freischärlern versteckte.

Das ist auf jeder Seite ein Buch über diesen permanenten Identitätsstress, der uns heute, damals und immer umtreibt und klein und groß macht und umbringt und rettet. Das ist ein Buch über die Bienenzucht, über Bienen, über unschuldige Kriegstote, die ihre Hand nicht mehr heben können, um die Bienen, die um sie herumschwirren, zu vertreiben. Das ist, in seinen intimsten Sequenzen, ein Buch über die tödliche Krankheit einer Mutter. Wir sehen ihre letzten Tage durch die Augen des Sohnes, des Erzählers. Jergović behauptet, die Mutter nicht geliebt zu haben und von ihr nicht geliebt worden zu sein.

Die unerhörte Geschichte meiner Familie ist ein langer Abschied des Erzählers von seiner Mutter, ein Abschied, der kein inniger und kein ehrlicher sein kann. Die Mutter ist reine Schuldzuweisung, auch dem Sohn gegenüber – für nichts übernimmt sie die Verantwortung, nicht für ihr verunglücktes Leben, nicht für ihr Sterben. Er wiederum will von ihr nur noch eins: Geschichten über vergangene Lebende, um sein Buch zu schreiben, jenes, das wir lesen. Ein Buch voller Vorwürfe, sie äußert ihre direkt, er erzählt seine dem Text, sehr bedrückend zu lesen, die Unbeziehung der beiden. Wie die Mutter ein Wunder erwartet von ihrem Sohn, der ihr nicht einmal Trost schenken will oder vermag.

Mutter und Sohn haben nur durch Geschichten einander wirklich noch etwas zu sagen, finden vielleicht sogar Frieden im Erzählen. Literatur als Betäubungsmittel, gegen den Schmerz und das schlechte Gewissen.

Ein Buch darüber, dass nicht jeder alle Tassen im Schrank haben kann

Das ist ein Buch über die am Wegesrand der Geschichte, Nebendarsteller großer Ereignisse, das ist ein Buch über den ehemaligen Offizier der zaristischen Armee, Wassilj Nikolajewitsch, welcher mit der Flucht aus Russland alles verliert, seine Soldatenehre, seine Familie und Zugehörigkeit, Heimat, und der nun bei den Stublers als Gast am Tische sitzt und kein Wort spricht, und von dessen kniehohen Stiefeln die Kinder mal gut, mal schlecht träumen.

Das ist ein Buch über die Sprache, die Muttersprache, die Fremdsprache, die Sprache in der Zeit, die Sprache der Erinnerung, der Kindheit, des Sterbens, ein Buch über die einende und entzweiende Kraft der Wörter, des Sprechens, des Schweigens, das ist ein Buch über das vielsprachige Jugoslawien und darüber, dass es dort oft egal war, wer welche Sprache sprach, man hätte miteinander auch stumm auskommen müssen, und gelegentlich eben auch nicht egal, weil Sprache ein „Wir“ schafft, das zugleich ein „Ihr“ bedeutet – „Ihr“, die anderen, „Ihr“, die Minderheit.

Das ist ein Buch über Stanko Rojniks Aktentasche, in der womöglich der Tod hauste, Stanko Rojnik sprach darüber nicht.

Das ist ein Buch über die kroatische Geschichte Sarajevos und darüber, wie in der Stadt kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs die Ustaša gefoltert und gemordet hat. Das ist ein Buch darüber, dass die Hymnen auf die Ustaša und die Tschetniks noch immer nicht verstummt sind.

Das ist ein Buch über Mladen, der gefallen ist, „weil die Mickerkroaten mit Hitlers Hilfe groß sein wollten“.

Das ist ein Buch über die Erziehung zur Zivilgesellschaft und ein Buch gegen die Verrohung der Gesellschaft, ein Buch über das Misslingen der Erziehung und die große Verrohung.

Das ist ein Buch darüber, dass nicht jeder alle Tassen im Schrank haben kann.

Ein Buch, das weiß, dass man zuerst die Stimme eines Menschen vergisst, nachdem er gestorben ist.

Ich habe das Schicksal der Stublers immerfort mit dem meiner eigenen Familie vergleichen und mit den lebenden und toten Stanišićs besprechen müssen. Mein Urururururururgroßvater erzählte mir, wie er in einem montenegrinischen Städtchen den Hund eines osmanischen Herrschers getötet hat, er wollte nicht sagen, warum, so wie ich mich kenne, war es dummer Trotz. Er musste fliehen und floh nach Bosnien, und auch unter den Stublers gibt es Geflüchtete und Dumme und Trotzige, und ich kann hier jetzt nicht ernsthaft so tun, als sei ich eine auch nur im Ansatz objektive kritische Instanz für dieses aberwitzige Naturereignis von einem Roman, dazu ist es mir zu wichtig, dazu ist es mir zu nahe gegangen, es hat mich gerührt und genervt und erfreut und erschüttert, und wie gut ist es, wenn ein Text all das kann.

Das ist das monumentalste Buch, das ist für mich ein Buch von einer Million Seiten, denn es hat sich in mir fortgeschrieben, die ohnehin vielfältigen, verästelten Handlungszweige haben Knospen getrieben. Das ist ein Buch über Jergović, die unerhörte Geschichte seiner Familie, ein Buch über mich und meine Familie, über die immerzitternde Vorläufigkeit jeder Heimat. Ein Buch über und für die traurigen, kaputten, überschwänglichen, idiotischen, faulen, schönen, hassens- und liebenswerten Länder und Menschen, die einst Jugoslawien und Jugoslawen waren oder Königreiche und Könige, oder Europa und Europäer oder unklar, was – Knechte, Ruhelose, Kroaten, Deutsche, Bienen, Muslime, Selbstbestimmer und Fremdbestimmte, Betrüger und geistreiche Bummelanten, Wehrmachtsoffiziere, Mitläufer. Das ist ein großes Buch, und so viele große Bücher liest man nicht, aber wenn man eines erwischt, dann weiß man das sofort, man spürt das Ausgesetztsein der Kunst, der Erfindung, der Zeit, all dieser Leben, die alle gleichzeitig das eigene sind und fremd, die kommen, die sind und die unerhört vergehen.

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Saša Stanišić

wurde 1978 in Bosnien-Herzegowina geboren und lebt seit 1992 in Deutschland. Er ist Schriftsteller. Für seinen Roman »Vor dem Fest« erhielt er den Preis der Leipziger Buchmesse

Miljenko Jergović: Die unerhörte Geschichte meiner Familie. Roman; a. d. Kroat. von B. Döbert; Schöffling & Co., Frankfurt/M. 2017; 1144 S., 34 €, E-Book 24,99 €

Saša Stanišić  14. November 2017
Rubrik: Balkan/Osteuropa/Kaukasus

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