Vor 100 Jahren verschlug es Tausende griechische Soldaten nach Sachsen. Mancher fand hier seine Liebe. Eine fast vergessene Geschichte deutsch-griechischer Beziehungen.
Athen, im Sommer 1967. In Griechenland haben rechtsgerichtete Offiziere geputscht, sie durchkämmen die Stadt nach Widerständlern, wer entdeckt wird, landet in Folterkellern. Am 21. August fällt den Häschern Mikis Theodorakis in die Hände. Der Mann ist eine Legende, als Musiker und Gegner der Diktatur.
Kurz danach, gut 1600 Kilometer Luftlinie von der Akropolis entfernt, in einer idyllisch gelegenen Stadt an der Neiße, hört der Schüler Klaus-Dieter Tietz erstmals das metallische Gezirpe einer Bouzouki. „Radio DDR spielte aus Solidarität mit Theodorakis dessen Lieder“, erinnert sich Tietz, „das war mein erster Kontakt mit griechischer Musik.“ Es muss eine Art Erweckungserlebnis gewesen sein. Denn wie sich eine Diktatur anfühlt, das weiß der junge DDR-Bürger da schon, das macht ihm die bedrängten Griechen sofort sympathisch.
Was er nicht ahnt: Zwischen seiner Heimatstadt Görlitz – „wo wir jeden Morgen den Kohlestaub von den Fensterbrettern kehrten“ – und jenem fernen Land an der blauen Ägäis gibt es eine geradezu innige Verbindung. Sie ist, historisch gesehen, sogar einmalig. Sie war nur vergessen, vergraben, unsichtbar.
Klaus-Dieter Tietz, eisgrauer Schnauzer, wasserblaue Augen in einem Meer aus Lachfältchen, lebt auch heute noch in Görlitz. Er ist jetzt 63, Arzt, liebt melancholische, griechische Balladen und er weiß noch gut, wie das war, als es Deutschland zweimal gab. Westdeutschland war unerreichbar, Griechenland sowieso.
Kontaktverbot, doch die Stasi verstand kein Griechisch
Damals, als Panzer durch Athen rollten, entstanden in München und Hamburg Hellas-Hilfskomitees, aber nebenbei sehnte man sich auch nach dem Süden. Wer in der DDR lebte, der konnte jedoch nicht einfach „Zum Griechen“ an der Ecke gehen und sich mit Sorbas und Sirtaki wegträumen. „Bei uns gab es ja keine Tavernen und keine griechischen Gastarbeiter“, sagt Tietz.
Was also tun? „Ich habe überall nach griechischer Musik gesucht“, erinnert sich Tietz. Der Troubadour Theodorakis fällt in Berlin-Ost bald wieder in Ungnade, er hat seine Freiheitsliebe zu laut besungen. Der Medizinstudent Tietz geht die Sache systematisch an, er bringt sich erst einmal Griechisch bei, mit einem aus dem Russischen übersetzten Lehrbuch.
Und er schreibt an Radio Athen, „obwohl die Kontaktaufnahme mit imperialistischen Staaten verboten war, aber die Stasi konnte wohl kein Griechisch, so gingen die Briefe durch die Zensur“. Fündig wird er dann, gänzlich unerwartet, im „Polnischen Informationszentrum“ in Leipzig. „Da gab es griechische Schallplatten, aus Polen, aus Zgorzelec.“ Da staunte Tietz, denn Zgorzelec liegt ja gleich auf der anderen Seite der Neiße.
Görlitz wurde 1945 in eine deutsche und eine polnische Stadt geteilt. Im Jargon der DDR ist der Fluss die „Friedensgrenze“. Die war für DDR-Bürger allerdings „rappeldicht“, wie Tietz sagt. Wer rüber wollte zu den polnischen Nachbarn, brauchte Einladungen, Genehmigungen, Stempel und wieder Stempel, weshalb es auch eine Weile dauert, bis Tietz erstmals nach Zgorzelec darf, wo er schließlich erfährt, was seine Stadt mit Griechenland verbindet. Aber die ganze Geschichte ist das auch nicht.
Polnische Stadt mit mehr Griechen als Polen
Bevor man sich die erzählen lässt, noch ein Blick auf die träge dahinfließende Neiße, die nichts mehr trennt. In Görlitz schmiegt sich die deutsche Geschichte an den Fluss, Kirchen aus der Spätgotik, Barockpaläste, eine Jugendstil-Synagoge, 1000 Jahre Urbanität. Zwei Minuten dauert ein Spaziergang über die Altstadtbrücke von Deutschland nach Polen, grenzkontrollfrei.
Fahrradfahrer klingeln sich durch Fußgängerreihen. Drüben in Zgorzelec sind die Zigaretten billiger, auf der deutschen Seite trinkt man den Espresso unter Baldachinen vor herausgeputzen Altbauten, neben chinesischen Touristen, die in ihren Smartphones versinken.
Klaus-Dieter Tietz taucht in die griechische Historie ab: „Da gab es nach dem Zweiten Weltkrieg einen Bürgerkrieg; als der im Oktober 1949 zu Ende war, mussten Zehntausende Kommunisten fliehen, 14 000 kamen nach Polen, die meisten nach Zgorzelec.“ Dort gab es Platz, auch in den Häusern der vertriebenen Deutschen. „Zgorzelec wurde zur Republika Grecka“, mit zeitweise mehr Griechen als Polen.
Aber die Regierung in Warschau wollte von den Gästen möglichst wenig Aufhebens machen, wohl um Neidgefühle bei der notleidenden eigenen Bevölkerung zu vermeiden. Schließlich bekamen die Griechen, unter ihnen viele Kriegsinvaliden, Verpflegung und medizinische Betreuung. Von einem Zusammenprall der Kulturen berichten Zeitzeugen.
Die Griechen waren „alle schwarz gekleidet, die Frauen trugen zusätzlich schwarze Tücher auf den Köpfen… die vorwiegend dunkle Unterwäsche wurde auf den Balkons und an den Fenstern aufgehangen, was der Stadt einen exotischen Ton gab“ (aus einer Materialsammlung des Vereins „Europa-Haus Görlitz“).
Als den Geflüchteten klar wird, dass sie so bald nicht, ja vielleicht nie, zurückkehren werden, passen sie sich an. Die Kinder lernen Polnisch, werden katholisch getauft, weil orthodoxe Pfarrer fehlen, es gibt Mischehen. Aber ihre Musik pflegen die Griechen weiter – weshalb Tietz in Leipzig und Zgorzelec auf ihre Schallplatten stößt.
Als die DDR dann niemanden mehr am Reisen hindern kann, weil sie selbst Geschichte ist, macht sich Tietz erstmals auf nach Griechenland, klassisch, im Trabi. Auf der Halbinsel Chalkidiki wird er gefragt, „warum ein deutscher Doktor ein so kleines Auto hat“. Der Doktor wiederum findet rasch heraus, dass er in all den Jahren aus der Distanz die Griechen doch „etwas idealisiert“ hat. Dennoch fühlt er sich recht wohl in der erträumten Zweitheimat, bei Rembetiko und Retsina.
Erst vor etwa fünf Jahren hat Tietz dann von einem alten Lehrer erfahren, warum noch zu DDR-Zeiten, Ende der Siebzigerjahre, an seinem Gymnasium ein Stapel historischer Zeitungen aussortiert wurde. Als Schüler hatte er sich ein paar der Blätter geschnappt, weil sie in diesen seltsamen griechischen Lettern bedruckt waren, die ihn so interessierten.
Sieben restaurierte Grabsteine und ein historischer Lageplan
„Latein und Griechisch hätten an einer sozialistischen Schule nichts verloren“, das war die Begründung für die Säuberungsaktion. Tietz hat sich auch den Titel der Zeitungen gemerkt: NEA TOY Görlitz (Neues aus Görlitz). Seltsamerweise waren sie einst in Görlitz gedruckt worden – und zwar 1916. Jetzt muss man die Erzählung auf dem Görlitzer Friedhof fortsetzen, bei Evelin Mühle, der Betriebsleiterin. „Bei uns wird ja wenig weggeworfen“, sagt Mühle und stellt eine große braunstichige Pappe auf den Tisch, den Plan eines alten Gräberfelds, mit der Aufschrift: 22a Griechen.
Gesucht und gefunden hat Mühle den historischen Lageplan, nachdem ein Steinmetz einen überwucherten Grabstein freigelegt hatte, mit einem Namenszug in griechischen Lettern. Sieben Granitsteine haben sie dann insgesamt entdeckt, restauriert und wieder aufgerichtet, und damit kam die älteste, schier unglaubliche Geschichte der Griechen von Görlitz ans Tageslicht.
Die führt zurück auf die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs. Der griechische König Konstantin I., der mit einer Schwester von Kaiser Wilhelm II. verheiratet war, sympathisierte mit dem deutschen Kaiserreich, die Regierung in Athen unter Eleftherios Venizelos aber mit den Alliierten Großbritannien und Frankreich. Venizelos wurde schließlich entmachtet.
Die Spannungen wurden richtig angeheizt, als bulgarische Truppen (mit Zustimmung Berlins) in Griechenland einmarschierten – obwohl der deutsche Botschafter in Athen den Griechen zugesichert hatte, die Souveränität ihres neutralen Landes werde gewahrt. Im östlichen Makedonien geriet daraufhin das dortige IV. Griechische Armeekorps in höchste Bedrängnis. Die Lage spitzte sich so zu, dass Korps-Kommandant Oberst Ioannis Chatzopoulos auf eine ungewöhnliche Idee kam.
Um der Gefangennahme zu entgehen, wandte er sich an Generalfeldmarschall Hindenburg und fragte, ob es möglich sei, das gesamte Korps samt Waffen nach Deutschland zu überführen und seinen Aufenthalt bis Kriegsende zu sichern. Andernfalls wollte man sich in Thessaloniki, wo Venizelos eine Gegenregierung geschaffen hatte, den Briten ergeben.
Görlitz begrüßte mit Girlanden und Militärmusik
Kurios, aber Hindenburg stimmte zu, und so begann der Abmarsch von Kavala nach Norden. Zwischen 15. und 27. September 1916 machten sich 6100 Soldaten und 430 Offiziere in zehn Eisenbahnzügen auf den Weg nach Görlitz, weil es dort Platz in einer leeren Kaserne gab. Sogar Gebirgskanonen hatten die Griechen dabei. Die Offiziere brachten auch Frauen und Kinder mit. Viele dieser Details hat der in Berlin lebende griechische Autor Gerassimos Alexatos ausgegraben, er forschte unter anderem im Archiv der griechischen Heeresführung.
Der Empfang in Görlitz war ausgesprochen herzlich, Willkommenskultur mitten im Weltkrieg. Es gab Girlanden und Transparente mit der Aufschrift „Xairete“ (Seid gegrüßt), eine Militärkapelle spielte.
Das Ganze war natürlich auch ein Propaganda-Coup, der Transport von Streitkräften eines neutralen Landes nach Deutschland empörte Berlins Kriegsgegner. In philhellenischen Kreisen aber war die Begeisterung echt. Sie führte gar, wie Alexatos schreibt, „zur ersten halboffiziellen Reiseempfehlung zugunsten des noch nicht existierenden griechischen Tourismus (Zeitungsaufruf: ‚Nach Griechenland‘)“. Mitten im Krieg war das gewagt.
Görlitz stellte sich auf die „Gast-Gefangenen“ ein, Wirtshäuser wetteiferten mit griechischen Speisekarten ums neue Publikum, die Offiziere bekamen schließlich ihren Sold weiter, sie durften privat wohnen. Die einfachen Soldaten mussten abends zurück in die Kaserne. Die deutsche Heeresleitung und die Regierung stellten aus einem eigenen „Griechenfonds“ gut zehn Millionen Mark zur Verfügung.
Nun waren viele deutsche Männer im Krieg, Arbeitskräfte wurden gesucht, einige Griechen lernten Berufe wie Schuster und Schneider. Bald warfen auch Görlitzerinnen ein Auge auf die jungen Südländer, die sonntags in Gruppen durch ihre Stadt spazierten. Das wiederum wurde nicht von allen Bürgern gern gesehen.
Davon kann Hildegard Halaris berichten, ihr Schwiegervater Petros war einer der Görlitzer Griechen. Frau Halaris ist 92, trägt Bubikopffrisur, und weil die Beine nicht mehr so tun, ist ihr Sofa ihr Cockpit, mit Telefon, Fernbedienungen und Fotoalben in Griffnähe. „Die Griechen“, sagt Halaris, „hatten so ein Heimweh, die waren ja 3000 Kilometer weg von zu Hause.“
Sie hält einen blassblauen Wimpel hoch, mit dem die Soldaten einst in Görlitz begrüßt wurden. Fotos des Schwiegervaters zeigen einen eleganten Mann im schwarzen Anzug. Petros Halaris stammte von der Kykladeninsel Syros, heiratete schon 1920 in Görlitz und eröffnete als Orthopädischer Schuhmachermeister ein Geschäft. 1921 kam Sohn Leander auf die Welt, 1948 lernte die Medizinstudentin Hildegard den jungen Griechen kennen.
Der wurde später ein angesehener Chirurg am Görlitzer Krankenhaus, „aber zweimal im Jahr musste er sich bei der Polizei melden“. Als Ausländer. Einmal wollte sich die DDR seiner dann bedienen, er sollte eine Delegation der „polnischen“ Griechen empfangen. Leander Halaris hatte dazu aber keine Lust. „Er konnte nicht so gut Griechisch“, sagt seine Witwe.
In Görlitz gab es noch lange ein paar griechische Geschäfte, Frau Halaris erinnert sich an einen Friseur, Klaus-Dieter Tietz an einen Spielwarenladen. Die meisten Gast-Gefangenen kehrten nach dem Krieg zurück, nach mehr als zwei Jahren in Deutschland. Kurz davor ging es in Görlitz wohl noch drunter und drüber, einige Griechen schlossen sich den linken Arbeiter- und Soldatenräten an.
Ein Grieche sucht noch immer seine Schwester, die in Görlitz zur Welt kam
Als sie dann endlich zu Hause ankamen, war für die meisten das Drama nicht zu Ende. Die Rückkehrer galten in einem tief gespaltenen Land als „Landesverräter“, denn wer begibt sich schon „freiwillig“ in Gefangenschaft. Viele kamen erst einmal wieder in ein Lager.
Mit den Soldaten gingen auch einige Görlitzerinnen, es gab zuvor noch zahlreiche Hochzeiten und Verlobungen. Die meisten Frauen kehrten „nach einer Weile entmutigt zurück“, wie Autor Alexatos herausgefunden hat. „Die Hindernisse in einer Zeit des Hasses, des gegenseitigen Misstrauens“ seien wohl unüberbrückbar gewesen. Hildegard Halaris sagt, „die Kulturen waren zu unterschiedlich“. Viele der jungen Ehen hätten nicht gehalten. „Es hat auch einige uneheliche Kinder gegeben.“
So kam am 19. Mai 1919 in Görlitz auch ein Mädchen zur Welt, das den Namen Irini bekam. Ihr Vater war da schon wieder in Griechenland, er wollte später zurück nach Görlitz, erhielt aber keine Erlaubnis der Athener Regierung. Der Mann bekam noch einen Sohn, und dieser Polýtefkis Vrechós war zweimal in Görlitz, um seine Schwester zu suchen. Auch bei Klaus-Dieter Tietz war er, der konnte ihm aber auch nicht helfen, die Schwester blieb verloren.
Auf dem Görlitzer Friedhof sind heute wieder die sieben Grabstelen der Offiziere zu sehen, die an Krankheiten oder Mangelernährung starben, darunter die des Kommandanten Chatzopoulos. Die etwa 400 Holzkreuze der einfachen Soldaten, von denen viele Opfer der Tuberkulose wurden, sind nicht mehr erhalten.
Die Vision vom Stimmenmuseum der Völker
Erhalten aber hat sich die weltweit wohl erste Aufnahme einer Bouzouki. Im Juli 1917 reiste die Königlich-Preußische Phonographische Kommission nach Görlitz. Die Wissenschaftler haben eine Vision: ein Stimmenmuseum der Völker, mitten im Krieg ein außergewöhnliches Unterfangen. Musik ließ sich bereits auf Schellackplatten und Wachswalzen bannen. Die Aktion findet im Geheimen statt, die Experten werden von ethnologischem Ehrgeiz angetrieben. So singen und spielen Görlitzer Griechen für ein Lautarchiv, das noch besteht, in schweren Metallschränken, in der Humboldt-Universität in Berlin.
Wiederentdeckt hat den Schatz der Bochumer Musikpädagoge Konstantinos Andrikopoulos, er fand auch noch Familien der Soldaten in Griechenland und spielte den Enkeln die Stimmen ihrer Großväter vor. „Diese Lieder“, so sagt Andrikopoulos, „sind die Nachrichten in den Flaschen Schiffbrüchiger.“ Sie sind für den griechischen Musiker einzigartig – wie der Sonderstatus, den das Lager von Görlitz unter 170 deutschen Gefangenenlagern im Ersten Weltkrieg hatte.
Klaus-Dieter Tietz, dem ein paar griechische Bouzouki-Klänge einst einen ganzen Kosmos eröffneten, wird auch im 100. Jahr nach der Ankunft der Griechen in Görlitz in seiner Heimatstadt mit seiner Band auftreten. Sie heißt O Iatros (Der Arzt). Eines seiner Lieblingslieder ist von Mikis Theodorakis: Sto Perigali, im Text dazu von Giorgos Seferis heißt es: „Mit welchem Mut, welcher Kraft, welchen Wünschen und Leidenschaften begannen wir unser Leben. Fehler! Und wir änderten das Leben.“
Veröffentlicht in der Süddeutsche Zeitung vom 24./25.09.2016
https://www.sueddeutsche.de/politik/erster-weltkrieg-als-die-griechen-nach-goerlitz-kamen-1.3173898
Siehe auch
Die Griechen von Görlitz „Χαίρετε“ – „Seid gegrüßt!“ https://www.mdr.de/geschichte/weitere-epochen/zwanzigstes-jahrhundert/griechen-in-goerlitz106.html
Geschichte der Griechen in Görlitz und Zgorzelec https://www.goerlitzfotos.de/die-griechen/ (mit vielen Fotos)