Die Äteren bleiben zurück. Rund 80.000 Menschen haben Bosnien und Herzegowina in den vergangenen zwei Jahren verlassen. Sie sehen bei einer Jugendarbeitslosigkeit von 60 Prozent keine Perspektive in ihrem Heimatland.
Dritthöchste Arbeitslosigkeit der Welt und eine Luftverschmutzung wie in Nordkorea: Zwei Beispiele für das politische Versagen in Bosnien und Herzegowina. Seit Kriegsende 1995 leben Bosniaken, Serben und Kroaten getrennt. Wenige kämpfen gegen die „Geiselhaft der Ideologen“.
Nahid Mamic hat sich herausgeputzt. Ein weinroter bosnischer Fes mit Zipfel schmückt seinen ergrauten Kopf. Mit weißem Rüschenhemd und goldbestickter schwarzer Weste macht der 70-Jährige eine gute Figur. In der Ferhadija – der Fußgängerzone im Zentrum Sarajevos – spielt er Akkordeon und singt dazu Sevdah – den bosnischen Blues.
Nahid Mamic hat ein ganzes Erwerbsleben hinter sich, zuerst hat er als Automechaniker gearbeitet, dann als Kraftfahrer. Trotzdem ist er im Alter auf die Einnahmen aus der Spendenbox angewiesen, die er neben sich aufgestellt hat. Darauf steht geschrieben: „Danke an Gott und die Ärzte, dass ich noch lebe“:
„Ich bin zu 90 Prozent schwerbehindert. Ich bekomme umgerechnet 41 Euro im Monat. Ich lebe mit meinen zwei Söhnen zusammen und einer Schwiegertochter. Keiner von uns hat Arbeit. Meine zwei Enkeltöchterchen bekommen jeweils 5,50 Euro Kindergeld. Und das ist alles. Ich muss hier spielen, damit ich Medikamente kaufen kann und etwas zu essen und die Nebenkosten bezahlen kann. Damit ich leben kann.“
Nahid Mahmić spielt im Zentrum Sarajevos Sevdah, den bosnischen Blues. Mit seiner Rente von umgerechnet 41 Euro kommt der 70-Jährige sonst nicht über die Runden. (Srdjan Govedarica )
Arbeitslosigkeit liegt bei 40 Prozent
Große Erwartungen, dass sich an seiner Lage etwas ändern könnte, hat Nahid Mamic nicht. Die Arbeitslosigkeit in Bosnien und Herzegowina liegt bei 40 Prozent. Damit ist das Land weltweit an drittletzter Stelle, hinter Dschibuti und dem Kongo. Auch 23 Jahre nach Ende des Krieges geht es kaum voran. 80.000 Menschen sollen allein in den vergangenen zwei Jahren Bosnien und Herzegowina verlassen haben. Und das in einem Land mit der Einwohnerzahl Berlins. Es sind vor allem Junge und gut Gebildete, die gehen. Übrig bleiben Menschen wie Nahid Mamic. Wie viele im Land scheint er sich seinem Schicksal ergeben zu haben:
„Die Machthaber hier auf dem Balkan – sie scheren sich nicht um die Armen. Wir haben es schon im Krieg gesehen. Es hat niemanden interessiert, ob ich etwas zu essen habe und meine Kinder. Die religiösen Führer nicht, die Politiker nicht, die Behörden nicht, das Gesetz nicht, der Staat nicht. Wenn wir uns schon auf das Niveau von Tieren begeben – dann müssen wir doch essen, oder? Ich muss essen und ich muss sterben, nur das muss ich wirklich.“
Youtube-Videos gegen die Macht-Eliten
Das Plateau des Sport- und Kulturzentrums „Skenderija“ im Herzen Sarajevos. Damir Niksic dreht hier sein aktuelles Youtube-Video:
„Guck mal, so mache ich das: Den Text habe ich schon geschrieben, dann ziehe ich ihn in eine App, die gleichzeitig auch ein Teleprompter ist. Dann aktiviere ich die App und die Aufnahme geht los. Siehst du?“
Damir Niksic – ernster Blick, dichter Schnurbart, Brille und Schirmmütze – ist wütend. Wütend auf die Macht-Eliten in seinem Land. Eigentlich ist er studierter Maler. Seit Jahren ist der 48-Jährige der bosnischen Öffentlichkeit aber vor allem durch seine Youtube-Videos bekannt. Die Videos sind einfach gestrickt, haben es aber in sich. Meist läuft Damir Niksic einfach durch die Stadt und teilt ordentlich aus. So auch heute:
„Alle Bürger dachten: Hauptsache wir überleben, Hauptsache der Kopf ist noch auf den Schultern, Hauptsache es wird nicht mehr geschossen. Und in diesem Moment hast du es mit völlig verschreckten Bürgern, einer verschreckten Zivilgesellschaft zu tun, die gar nicht wissen, wie sie sich mit der Hegemonie der herrschenden Clique politisch auseinandersetzen können. Dabei sind das eher kleine ideologische Gruppen – also die serbischen oder kroatischen Nationalisten oder die Muslime – und sie haben die Menschen in Geiselhaft genommen – eine ganze Gesellschaft.“
Youtuber Damit Nikšić auf dem Plateau des Sport-und Kulturzentrums Skenderija. Er setzt sich gegen die politischen Machteliten ein, die „die gesamte Gesellschaft in Geiselhaft genommen haben“. (Srdjan Govedarica )
Es ist kein Zufall, dass Damir Niksic heute auf dem Plateau der Skenderija dreht. Das Ende der 60er-Jahre mit viel Beton und sozialistischem Charme gebaute Sport- und Kulturzentrum spielt eine große Rolle für die Stadt. Hier wurden 1984 während der Winterolympiade die Medaillen verliehen, in der Veranstaltungshalle haben alle wichtigen Popstars aus der Region gespielt und der Basketballverein „Bosna“ feierte hier große Erfolge. Noch gehört die Skenderija dem Staat. Jetzt ist aber bekannt geworden, dass der Komplex an einen Investor aus Dubai verkauft werden soll, der hier Bürogebäude und ein Einkaufszentrum errichten will. Damir Niksic geht davon aus, dass irgendein Amtsträger sehr viel Geld mit diesem Deal verdienen wird.
„Wir sind arme Schlucker. Hätten wir Kohle, würden die Machthaber auch etwas für uns tun und sagen, ich mache das, was die Bürger wünschen. Und weil wir keine Kohle haben, interessieren sie sich nicht für uns, die wir bis zum Hals verschuldet sind. Weder fragen sie noch verhandeln sie mit uns – sie verhandeln nur mit den Reichen.“
Politisches Versagen in fast allen Bereichen
Tatsächlich zeigt sich in Bosnien und Herzegowina seit Jahrzehnten ein bemerkenswertes Defizit an politischem Willen und Können, die Probleme seiner Bürger zu meistern. Neben der hohen Arbeitslosigkeit und der allgemeinen sozialen Unsicherheit präsentiert sich das Land auch sonst vor allem mit Mängeln. Von Krankenhäusern auf dem Niveau der Dritten Welt über eine auch im regionalen Vergleich miserable Infrastruktur bis zur Luftverschmutzung, die nur in Nordkorea mehr Menschen im Jahr tötet – das politischen Versagen macht sich in fast allen Lebensbereichen bemerkbar. Wer dagegen seine Stimme erhebt, wird entweder ignoriert oder diffamiert und im schlimmsten Fall sogar angegriffen – so auch Damir Niksic
„Es gibt schon Menschen, die gewisse Animositäten gegen mich hegen. Andererseits gibt es aber glücklicherweise auch Leute, die mir zur Seite stehen. Das ist mir auch schon mal passiert. Ich war gerade mit Einkaufstüten beladen und konnte mich gegen den Angreifer nicht wehren. Dann sind aber sofort zwei, drei Leute dazugekommen und haben den Typen verjagt.“
Klassisch mit nur genau einem Minarett entfaltet die Ferhadija-Mosche in Banja Luka im diesigen Licht des Wintertages ihre berühmte Schönheit. Das ist nicht selbstverständlich, denn die Moschee steht in der Hauptstadt der Republik Srpska, dem serbischen Landesteil Bosnien und Herzegowinas. Früher gehörte die Ferhadija-Mosche zum Unesco-Weltkulturerbe, doch dann musste sie neu gebaut werden, weil sie 1993 von serbischen Nationalisten vollständig zerstört worden war. Darüber spricht man heute nicht so gerne in Banja Luka. Doch darum schert sich Blogger Srdjan Puhalo nicht:
„Dafür musste sich niemand je verantworten. Und so ist die Ferhadija etwas, was Banja Luka verschönert – andererseits ist sie aber auch etwas, das viele Fragen aufwirft, die den Menschen hier nicht gefallen.“
Srdjan Puhalo engagiert sich als Blogger gegen den allgegenwärtigen Nationalismus in Bosnien und Herzegowina: „Es werden künstliche Spannungen erzeugt.“ (Srdjan Govedarica)
Ein T-Shirt auf Arabisch
Srdjan Puhalo fällt auf in Banja Luka. So trägt der 48-Jährige gerne T-Shirts, die seinen Mitbürgern übel aufstoßen. Zum Beispiel hat er sich eines mit dem populären serbisch-nationalistischen Slogan „Nur Eintracht rettet den Serben“ drucken lassen – auf Arabisch. Puhalo ist eigentlich promovierter Psychologe und verdient sein Geld in einer Markforschungsagentur. Bekannt ist er aber als Blogger – in seiner Freizeit schreibt und spricht er unerhörte Dinge aus, zumindest aus der Sicht vieler bewegter Serben:
„Ist es etwa normal, dass unsere Medien über ein Massengrab berichten, das in Mexiko entdeckt worden ist, aber nicht über ein Massengrab, das 100 Kilometer von hier entfernt ist und für das wir verantwortlich sind? Es reicht aus, nur diese Frage zu stellen, und viele werden sich darüber ärgern. Weil du Massengräber erwähnst, die wir gefüllt haben. Da muss man nicht besonders mutig sein oder weise oder klug. Es geht nur darum, ob du das Schweigen akzeptieren willst, das die Nationalisten und die regierenden Politiker vorgegeben haben oder eben nicht. Das hat natürlich aber auch seinen Preis.“
So wird Srdjan Puhalo von den regierungstreuen Medien regelmäßig als Verräter oder ausländischer Agent bezeichnet oder als jemand, der auf der Payroll des US-Milliardärs George Soros steht. Srdjan Puhalo stört mit seinen Zwischenrufen eine Praxis, die sich in Bosnien und Herzegowina in den letzten Jahrzehnten vor allem vor Wahlen zum Patentrezept für den politischen Machterhalt entwickelt hat. Seit dem Ende des blutigen Krieges 1995 ist Bosnien und Herzegowina ein defacto geteilter Staat. Das Land wird praktisch ohne Unterbrechung von Nationalisten regiert und diese konservieren ein noch in Kriegszeiten erprobtes System der Angst vor der jeweils anderen Ethnie. Das geht Srdjan Puhalo gehörig auf die Nerven und darüber schreibt er immer wieder. Auf seinem Blog und bei Twitter:
„Sie erzeugen künstliche Spannungen. Weil es viel einfacher ist, mit Angst und Hass zu regieren als Arbeitsplätze zu schaffen oder soziale Probleme zu lösen. Ich glaube nicht, dass der Hass wirklich so groß ist, aber durch Politik und Medien ist er allgegenwärtig. Und was auch wichtig ist: Der Hass wird auf diese Art dosiert. Man kann ethnische Spannungen ansteigen und dann wieder sinken lassen. Das wird kontrolliert.“
Die Dreifach-Besetzung der Ämter nervt
Und noch etwas anderes geht dem 46-jährigen Puhalo auf die Nerven. In Bosnien und Herzegowina wird alles streng nach den Kategorien Bosniake-Kroate-Serbe unterteilt. Alle wichtigen politischen Ämter sind dreifach besetzt, die Schulkinder lernen nach drei unterschiedlichen Lehrplänen, alle offiziellen Dokumente sind dreisprachig, obwohl die drei Sprachen linguistisch fast identisch sind. Srdjan Puhalo hat für all das wenig Verständnis:
„Ich bemühe mich, mich selber zuallererst als Mensch zu identifizieren. Und dann erst kommt alles andere. Ich habe kein Problem damit, Bosnier zu sein und auch nicht damit, Serbe zu sein. Aber wenn du zu deiner Frau und den Kinder nach Hause kommst, ist es doch etwas seltsam, Serbe zu sein. Da bist du Ehemann und Vater. Wenn du zur Arbeit kommst, hast du auch nichts davon, Serbe zu sein, da musst du Profi sein.“
Mostar ist geteilt: links Bosniaken, rechts Kroaten
Stefica Galic schreitet die von unzähligen Touristenfüßen glattpolierten Treppen der alten Brücke in Mostar hoch. Heute ist es kalt und windig und nur eine Handvoll Menschen schaut sich das Wahrzeichen der Stadt an. Stefica Galic hat den Blick auf die Neretva fast für sich alleine. Der Fluss mit seiner unwirklichen smaragdgrünen Farbe teilt Mostar in zwei Hälften – links von der Neretva leben muslimische Bosniaken, rechts davon Kroaten:
„Leider hat die Brücke noch immer nicht ihre alte Funktion, als sie die beiden Ufer der Neretva miteinander verbunden hat. Sie sieht so aus wie früher, aber heute trennt sie, im ganz alltäglichen Sinne. Es gibt unzählige Menschen, die sie nach dem Krieg noch nie überquert haben, vor allem junge Menschen. In diesem Sinne ist Mostar eine geteilte Stadt. Auch seine Institutionen sind geteilt. Vom Schulwesen, über die Müllabfuhr bis zum Stromanbieter – alles gibt es hier doppelt.“
Stefica Galić kämpft gegen nationalistische Narrative, die von Politik und Medien verbreitet werden: „Sie versuchen eine offizielle, erfundene Wahrheit zu etablieren. Das mache ich nicht mit.“ (Srdjan Govedarica )
Stefica Galic kommt eigentlich aus der mehrheitlich von Kroaten bewohnten Kleinstadt Ljubuski, wo sie und ihr mittlerweile verstorbener Ehemann Nedjo im Bosnienkrieg zu den „Helden von Ljubuski“ geworden sind, weil sie ihre muslimischen Nachbarn vor der Verfolgung durch ihre kroatischen Landsleute geschützt haben. Auch nach dem Krieg engagierte sich Stefica Galic gegen den kroatischen Nationalismus und musste deshalb Ljubuski verlassen und nach Mostar ziehen. Obwohl sie Kroatin ist, lebt und arbeitet sie auf der linken, muslimischen Seite der Stadt:
„Es ist nicht einfach. Ich gehe zum Beispiel selten auf die rechte Seite. Wenn ich drüben bin und zufällig mit einer meiner Äußerungen in der Öffentlichkeit war, rechne ich fest damit, dass ich jemanden treffe, der mir etwas Hässliches sagt. Und da ich schon mal zusammengeschlagen worden bin, kann das jederzeit wieder passieren, weil man mir immer damit droht. Aber das interessiert mich nicht. Wenn Sie mit sich im Reinen sind, glauben Sie an das, was Sie machen. Dann können Sie keine Angst haben. Man lebt nur einmal.“
Die jetzt Regierenden müssten abtreten
Stefica Galic betreibt ein Internetportal und engagiert sich – wie sie sagt – für die Wahrheit. Als Rechtsradikale den örtlichen Partisanenfriedhof verwüstet hatten und die Polizei sich weigerte, Ermittlungen aufzunehmen, weil der Friedhof angeblich vorher schon im schlechten Zustand war, stellte sie umgehend ein Video mit dem Gegenbeweis online. Sie möchte den Nationalisten aber auch nicht die Deutungshoheit über die Vergangenheit überlassen, sagt die 54-Jährige:
„Zum Beispiel die Wahrheit über den Krieg. Das habe ich am eigenen Leib erlebt. Als ich 2012 in Ljubuski erzählt habe, was ich erlebt habe, also was ich von meinem Balkon beobachten konnte und aus meinem Haus, wurde ich zusammengeschlagen, weil sie gesagt haben – das ist nicht wahr, das war nicht so. Sie versuchen eine offizielle, erfundene Wahrheit zu etablieren. Das mache ich nicht mit. So lange ich lebe, werde ich für die Wahrheit kämpfen, über die ich Zeugnis ablegen kann.“
Stefica Galic sagt, dass Bosnien und Herzegowina nur dann zu retten ist, wenn diejenigen, die den Krieg angezettelt haben und auch heute noch zündeln, nicht mehr an der Macht sind. Sie glaubt nicht, dass sie von alleine gehen werden. Deshalb hofft sie, dass sich möglichst viele für eine bessere Zukunft engagieren.
„Ich glaube, dass es wichtig wäre, wenn alle nach ihren Möglichkeiten ihr Bestes geben. Ich bemühe mich zum Beispiel, das was ich mache, möglichst verantwortungsvoll und zum Wohle aller zu tun. Wenn alle so handeln würden, ginge es uns sicher besser. Jeder kann beitragen. Die Frage ist, ob wir angepasst sein wollen und warten, bis uns jemand hilft, oder ob wir selber etwas unternehmen möchten. Es liegt an uns.“
Lieber singen als über Politik reden
In der Fußgängerzone im Stadtzentrum Sarajevos spielt Nahid Mamic noch einen letzten bosnischen Blues, danach will er sich eine Pause gönnen und seinen weinroten Fes für einen Moment ablegen. Über Politik möchte er eigentlich nicht so gerne sprechen, er sagt, dass er lieber singt. Zum Abschied macht er das, was man als typischer Schelm aus Sarajevo halt macht. Egal wie ernst das Thema ist – man verabschiedet sich mit einem Augenzwinkern.
„Ich habe mich nie für Reichtum und solche Dinge interessiert. Aber der weiblichen Schönheit bin ich schon immer zugeneigt gewesen. Und das bin ich auch heute noch, mit 70 Jahren.“