Über neunhundert Jahre lang war die Sophienkirche zu Konstantinopel der Mittelpunkt des oströmischen Reiches und gilt bis heute als eines der beeindruckendsten historischen Bauwerke der Welt. Mit der Eroberung Konstantinopels am 27. Mai 1453 durch osmanische Truppen unter der Führung von Sultan Mehmed II. wurde nicht nur das Schicksal der Kirche besiegelt, sondern auch des byzantinischen Reiches. Konstantinopel wurde zur Hauptstadt des Osmanischen Reiches, Hagia Sophia zur Moschee und Symbol der osmanischen Herrschaft.
Erst die moderne Türkei beerbte den „kranken Mann am Bosporus“ und errichtete auf den Ruinen des islamischen Reiches eine säkulare Republik, welche sich allerdings auf Anatolien beschränkte. Mustafa Kemal Atatürk, der Vater der Türken, löste nicht nur das islamische Kalifat 1924 auf, sondern machte zehn Jahre später aus der Moschee Hagia Sophia ein Museum, das Ayasofya Müzesi.
Die Armee sollte als Hüterin der streng laizistisch ausgerichteten Politik der Türkei dienen und jegliche Versuche von Politikern, daran etwas zu ändern, ein Ende bereiten. Necmettin Erbakan, der es als erster islamistischer Politiker wieder in das Amt des Ministerpräsidenten schaffte, sprach sich bereits während seines Wahlkampfes 1996 für einen Rückbau des Museums in eine Moschee aus. Als gewählter Regierungschef sprach er das Thema zwar nicht mehr an, was ihn aber dennoch nicht vor dem Militärputsch ein Jahr später bewahren konnte.
Erbakan galt als politischer Ziehvater des heutigen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der die Zeit offensichtlich für reif genug hält, trotz internationaler Kritik diesen Schritt nun zu wagen. Das Oberste Verwaltungsgericht der Türkei entschied am 10. Juli, dass – nach 86 Jahren – die Hagia Sophia wiederum in eine Moschee umgewandelt werden dürfe. Damit stellte das Gericht den Status wieder her, den zuletzt Sultan Mehmed II. mit seinem Erlass vor beinahe 550 Jahren verfügte, wonach der Zweck des Gotteshauses nicht mehr verändert werden dürfe. Nun soll bereits am 24. Juli 2020 wieder das erste islamische Gebet stattfinden.
Dass Erdoğan diesen Schritt gerade jetzt vollzogen hat, ist ein weiterer Meilenstein auf dem Weg des Selbstverständnisses der neuen Türkei, die zunehmend sichtbar auf den Spuren des alten osmanischen Erbes wandelt. Dazu gehören sowohl der religiöse ebenso wie der kulturelle Aspekt. Mit TV-Produktionen wie „Diriliş: Ertuğrul“, was so viel wie die „Auferstehung des Ertuğrul“ bedeutet und vom Aufstieg der Osmanen erzählt, eroberte man im Sturm die islamischen Herzen in vielen Ländern.
„Sultan Erdoğan“, wie der türkische Präsident oft verächtlich genannt wird, wird aber tatsächlich aufgrund seiner Politik, die nicht mehr von westlichen „Allianzen gefangen ist“, immer mehr als islamische Führungsfigur betrachtet. Selbst in Pakistan, das historisch nicht zum Osmanischen Reich gehörte, sieht man inzwischen in der Türkei eine führende islamische Nation:
Die Türkei hat den Weg für die Muslime gezeigt, es kann jetzt führen.
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Bei einem Fernsehauftritt nach der Entscheidung des Obersten Verwaltungsgerichts bediente Erdoğan genau diese Vorstellung, dass sich nämlich die Türkei als eigenständiger geopolitischer Akteur mit eigenen Interessen präsentiert. Deshalb werde seine Regierung auch so angefeindet, weil man „wie in der Vergangenheit“ wünsche, dass Ankara lediglich das akzeptiert, was der Westen anzubieten hat. Aber „was sie natürlich nicht verstehen, ist, dass es die alte Türkei nicht mehr gibt.“
Die Türkei werde „weiter kämpfen, arbeiten, produzieren, bauen“, bis alle „unsere Ziele“ erreicht sind, sagte er weiter.
Die Türkei hat immer verloren, wenn sie nach einem Kompromiss suchte und Konzessionen machte.
Mit der Hagia Sophia, Libyen, Syrien und „vielen anderen“ Dingen habe man aber gezeigt, dass man jetzt das tue, was im Interesse der Türkei ist. Und „diesen Weg werden wir weiter gehen“, ergänzte Erdoğan noch.
Während der türkische Präsident also offen ausspricht, dass jene Zeit der Vergangenheit angehört, als man sich noch nach dem Westen richtete und nun stattdessen eigene Interessen verfolgt, wird das in Berlin und Brüssel nur zögerlich zur Kenntnis genommen. Beim EU-Außenministertreffen am Montag wurde darüber diskutiert, wie sich die EU künftig gegenüber der Türkei aufgrund der vielen Streitpunkte verhalten solle. Länder wie Frankreich, Griechenland und Zypern fordern schon seit Monaten eine härtere Gangart gegenüber der Türkei.
Doch dazu konnten sich die EU-Außenminister auch dieses Mal nicht durchringen. Stattdessen blieb es bei einer erneuten Drohung, dass man weitere Maßnahmen ergreifen werde, sollte Ankara die Aktivitäten zur Exploration von Bodenschätzen im östlichen Mittelmeer weiter ausbauen, die man eigentlich aber bereits in dem gegenwärtigen Umfang als illegal betrachtet. Die Türkei sei „ein wichtiges Land für die Europäische Union“, sagte der EU-Chefdiplomat Josep Borrell. Es gebe aber einen „Konsens“ der Mitgliedsstaaten, dass es „besorgniserregende Zeichen“ im östlichen Mittelmeer gebe, die „direkt unsere Interessen betreffen“.
Auch Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) betonte die „strategische Bedeutung der Türkei in außen- und sicherheitspolitischen Fragen“, aber man wolle weiterhin mit Ankara im Gespräch bleiben. Von der Türkei müsse es aber positive Signale bezüglich der Explorationsaktivitäten geben, räumte Maas ein.
Während also einerseits festgestellt wird, dass die türkische Politik die Interessen der EU untergräbt oder ihre eigenen Interessen auf Kosten derjenigen der EU durchsetzt, hofft die Bundesregierung lediglich auf positive Signale aus Ankara. Damit wird nicht Borrell der Rücken gestärkt, wie es Maas gerne sähe, sondern Recep Tayyip Erdoğan. Das zeigt damit der türkischen Bevölkerung, aber eben auch der weiteren islamischen Welt, dass sich die Türkei zumindest im Geiste der einstigen osmanischen Größe annähert und eine Führungsrolle übernehmen kann.
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