Die „Tscherkessen-Frage” und die russische Bildung

Franz Krummbein

Als eine Region voller ungelöster Konflikte ist der Kaukasusraum in den letzten Jahren verstärkt in das Blickfeld des öffentlichen Interesses geraten.

 

Die Tscherkessen sind heute über die ganze Welt verstreut.  Im Kaukasus ist nur eine Minderheit der Tscherkessen verblieben, die in drei autonomen Republiken lebt: In Adygeja (Hauptstadt Maykop) sind von 453.000 Einwohnern etwa 109.000 Tscherkessen, in Karatschai-Tscherkessien (Hauptstadt Tscherkessk) von etwa 466.000 Einwohnern rund 56.000 Tscherkessen und in Kabardino-Balkarien (Hauptstadt Naltschik) von 866.000 Einwohnern etwa 2500 Tscherkessen. Die Russen machen in Adygeja 64 Prozent aus, in Kabardino-Balkarien 32 Prozent und in Karatschai-Tscherkessien 32 Prozent.

Tscherkessk wurde als Militärstützpunkt an Russlands südlicher Grenze gegründet. 1825 erhielt die Festung den Status einer Kosaken-Staniza, die Batalpaschinskaja hieß. 1934-1937 nannte man sie Sumilow zu Ehren des Staatsmannes Daniil Sulimow. Nachdem dieser im Zuge der Stalinschen Säuberungen hingerichtet worden war, hieß die Stadt Jeschowo-Tscherkessk – nach dem Innenminister Nikolai Jeschow. Nachdem auch Jeschow während des Großen Terrors hingerichtet war, erhielt die Stadt ihren heutigen Namen Tscherkessk.

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Der Elbrus – die höchste Erhebung des Kaukasus und Europas überhaupt – befindet sich im Siedlungsraum der Tscherkessen; er ist der Tscherkessen „heiliger Berg“.

„Um den Begriff `Tscherkesse´ herrscht in den Medien und auch in der Literatur einige Verwirrung. Der russische Romanautor Lew Tolstoi behauptete sogar, es gebe zwar Tschetschenen, Abadzechen und Kumyken, aber keine Tscherkessen. Hier irrte Tolstoi. `Tscherkessen´ ist der Oberbegriff für mehrere kaukasische Stämme wie Kabardiner, Schapsugen und Ubychen. Sie selbst bezeichnen sich in ihrer Sprache als Adygejer. Das Exekutivkomitee der Internationalen Tscherkessischen Assoziation empfahl im Jahr 2011 allen Adygejern, sich im Russischen und in anderen Sprachen Tscherkessen zu nennen. Wohl, um im Ausland die Begriffsverwirrung zu beseitigen“, schrieb Manfred Quiring.

Die tscherkessische Sprache besteht aus zwei verschiedenen Dialekten, dem West-tscherkessischen (adygejisch) und Ost-tscherkessischen (kabardinisch). Das West-tscherkessische ist in Adygeja die offizielle Sprache (Adygeja ist ein tscherkessisches Wort und bedeutet Krieger); das Ost-tscherkessische Sprache wiederum in Kabardino-Balkarien und in Karatschai-Tscherkessien.

Immerhin sind in zwei der drei russischen Teilrepubliken Tscherkessen an der Macht: in Adygea ist seit 2017 Murat Kumpilow Präsident und in Kabardino-Balkaria Kazbek Kokov. In Karatschai-Tscherkessien ist der Karatschane Rashid Temresow seit 2011 an der Macht.

Die Tscherkessen in der Türkei stellen mit etwa zwei Millionen Menschen (2,8 Prozent der türkischen Gesamtbevölkerung) nach den Kurden eine der größten ethnischen Minderheiten dar. Die große Mehrheit der aus dem Kaukasus eingewanderten Tscherkessen wurde auch in der Türkei assimiliert. Nur knapp die Hälfte beherrscht noch eine der tscherkessischen Sprachen.

Die Tscherkessen fordern von der Türkei, in der sie die größte Diaspora-Gruppe haben, die Anerkennung ihrer eigenständigen Sprache, Geschichte und Kultur sowie Berücksichtigung ihrer Anliegen durch die türkische Außenpolitik in Bezug auf den Kaukasus, schreibt Hans-Joachim Hoppe.

Man muss sagen, dass es in der Türkei die Föderation der Vereine des Kaukasus (KAFFED, Kafkas Dernekleri Federasyonu) gibt, das neben Tscherkessenkunde auch Lobbyismus und etwas Politik betreibt. Die KAFFED ist der Dachverband von 58 tscherkessischen Verbänden in der Türkei. Hinter KAFFED stehen mächtige Unternehmer, Politiker und Personen aus der Kultur und Bildung.

Dennoch klagen die Tscherkessen über ihre Situation in der Türkei. In Petitionen an das türkische Parlament und die Regierung forderten sie nach dem Vorbild der Kurden wiederholt Tscherkessisch-Unterricht an Hochschulen und Schulen sowie Radio- und TV-Sendungen in der tscherkessischen Sprache. Dabei verweisen sie auf die günstigere Situation in Russland in ihren drei Republiken. Mehrere tscherkessische Verbände riefen die Türkei auf, ihren Integrationsprozess mit der EU fortzusetzen.

Insgesamt fühlen sich die Tscherkessen in der Türkei politisch und wirtschaftlich benachteiligt. Dabei müssen sich sie gegen konkurrierende Lobbygruppen der Tschetschenen, Georgier, Armenier und Aserbaidschaner, die in der Türkei immer aktiver werden, durchsetzen.

In der Europäischen Union gibt es heute mehr als 40.000 Tscherkessen. In Deutschland sind die Tscherkessen meist nicht zu erkennen. Die meisten Tscherkessen seien in der türkischen Bevölkerung aufgegangen und erscheinen in der EU und insbesondere in Deutschland als Türken. Der Tscherkessischer Verein München ist der älteste in Deutschland (er wurde 1968 gegründet).

Die große Mehrheit der Tscherkessen sind sunnitische Muslime. Dabei über 4.000 Tscherkessen leben in Israel. Sie sind integriert im öffentlichen Leben und verrichten zuverlässig und loyal den Wehrdienst bei der israelischen Armee. Nach der Grundausbildung leisten sie ihren Eid auf den Staat Israel, schreibt die “Jüdische Rundschau”.

Heute sind die Tscherkessen in der Diaspora vom Verlust ihrer Sprache bedroht. Die heutige Generation spricht überwiegend nicht mehr Tscherkessisch, sondern Türkisch, Arabisch oder Englisch. Es heißt, die Tscherkessen in der Diaspora seien weitgehend assimiliert. In der Türkei litten Tscherkessen unter der jahrzehntelangen Politik der Türkisierung. Die tscherkessische Sprache wurde aus dem öffentlichen Raum verbannt, Vereins- oder Medienaktivitäten wurden nicht gestattet. Offensichtlich wollen die türkischen Behörden die Tscherkessen entweder assimillieren oder sie für ihre eigenen Interessen benutzen.

Derweil fordern Tscherkessen mehr Anerkennung ihrer Sprache innerhalb der Türkei. So sollte ihrer Meinung nach Unterricht in der Muttersprache der Schüler im Grundgesetz verankert werden. Ob die Türkei soweit geht und den muttersprachlichen Unterricht im Grundgesetz verankert, ist fraglich. Die Türkei entwickelt sich antidemokratisch.

Gleichwohl bedeutet die Rückbesinnung junger Leute tscherkessischer Abstammung auf ihre historischen Wurzeln eine Herausforderung für Russland, schreibt Uwe Halbach im Artikel “Die Tscherkessen-Frage”.

Derzeit genießt die tscherkessische Sprache einen offiziellen Status in den russischen Republiken. Der Unterricht der nationalen Sprachen ist durch ein spezielles Gesetz geregelt. Die tscherkessische Sprache wird im Schulunterricht zwar auf gleichem Niveau mit Russisch unterrichtet. In den Hochschulen werden die nationalen Sprachen als Lernfächer angeboten. In tscherkessischer Sprache werden Zeitungen publiziert, Fernsehsendungen ausgestrahlt. Es gibt auch einzelne Kultur- und Wissenschaftszentren, die sich den Erhalt und das Verbreiten der Sprache zur Aufgabe gemacht haben. Die Sprachlehrer sehen Probleme in den mangelhaften und unzureichenden Lehrmaterialien. So wird kaum Kinderliteratur publiziert, die Film- und Videoproduktion ist nicht entwickelt.

Eltern können selbst entscheiden, was ihr Kind lernen soll

Grundlegend für das aktuelle russische Bildungssystem ist das Gesetz „Über die Bildung in der Russischen Föderation“, das sogenannte Bildungsgesetz.   Die Föderation garantiert in diesem Gesetz die Rechte der kleinen Urvölker in Übereinstimmung mit den allgemein anerkannten Prinzipien und Normen.

Das staatliche Bildungswesen in Russland ist zentral organisiert. Die russische Sprache wird in der Verwaltung sowie in den Bildungsinstitutionen verwendet (Russlandweit ist Russisch die allgemeingültige Amtssprache). Allerdings werden in 33 Teilrepubliken und autonomen Kreisen die jeweiligen Volkssprachen als zweite Amtssprache verwendet. Dies wird auch zum Beispiel durch den Einsatz im Unterricht, in den Massenmedien und der Kulturpolitik offiziell gefördert.

Wer neidet, der leidet. Im August 2018 fand in Ankara eine Versammlung der Föderation der Vereine des Kaukasus statt. Heftige Diskussionen um die Frage der Unterrichtssprache ergaben sich in Zusammenhang mit einer Änderung des russischen Bildungsgesetzes. “Das Gesetz verletzt die Rechte der tscherkessischen Minderheit stark”, erklärte Präsident der KAFFED Cihan Candemir und fügte hinzu, die KAFFED betrachte das Gesetz als schändlich.

Kritisiert wurde vor allem These, in der folgende Regelung zur Sprachenfragen in den Schulen getroffen wurde: Den Eltern sollte das Recht gegeben werden zu entschieden, ob sie ihr Kind auf eine russischsprachige oder eine muttersprachliche Schule schicken wollten. Die jeweils andere Sprache sollte – und auch hieran entzündete sich heftige Kritik – nur noch auf Wunsch der Eltern unterrichtet werden.

Die Einführung des verpflichtenden Tscherkessisch-Unterrichts an russischsprachigen Schulen führte jedoch zu heftigen Protesten von Seiten der Eltern und Schüler, die u.a. mit Schwierigkeiten zusammenhingen, qualifiziertes Lehrpersonal und geeignete Lehrwerke zu finden.

Verschiedene Maßnahmen, die von Seiten der russischen Regierurung in den letzten Jahren  getroffen wurden, bewirkten de facto eine erneute Auswertung des Russischen: So führte eine Änderung des Bildungsgesetzes der Russischen Föderation zu einer Streichung der sogenannten “national-regionalen Komponente”, wodurch es nahezu unmöglich wird, die Regelung zu verpflichtendem Tscherkessisch-Unterricht aufrechtzuerhalten.

In Wirklichkeit ist eine Änderung des russischen Bildungsgesetzes nur ein Vorwand für die Aktivierung des Kampfes der KAFFED um politischen Einfluss und geldliche Ressourcen. Hinzu kommt noch das Problem der Effizienz der Regionaleliten im Kaukasus: Südliche Regionen bleiben die ärmsten Föderationsmitglieder Russlands. Davon war in Dmitri Medwedews Bericht die Rede, der die Zweckmäßigkeit einer Abschwächung der Clan-mäßigen Machtstruktur in diesen Regionen und eine verstärkte Kontrolle seitens des föderalen Zentrums begründet.

 

 

 

Franz Krummbein  20. Oktober 2018
Rubrik: Balkan/Osteuropa/Kaukasus

5 Gedanken zu „Die „Tscherkessen-Frage” und die russische Bildung“

  1. Schon erstaunlich wie wenig rechte noch immer minderheiten in der türkei 2018 haben. Der cem özdemir von den grünen ist ja soweit ich mich richtig erinnere auch tscherkesse.

  2. Integration – ist immer ein Problem, wenn man auf fremdem Terrain weiter darauf beharrt, einer anderen Gruppe zugehörig zu sein …. Je größer die religiösen Unterschiede, je lauter man diese vor sich herträgt, desto schwieriger ist es. – Ja, ich weiß, dass es auch umstritten ist, „fremdes“ Terrain zu bestimmen, aber wir leben im hier und jetzt.

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