Zum Verhältnis von Befreiungsbewegungen und Imperialismus, dargestellt am Beispiel der Entstehungsbedingungen der griechischen Nation
CIP – Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Sarides, Emmanuel:
Zum Verhältnis von Befreiungsbewegungen und
Imperialismus: dargest. am Beispiel der
Entstehungsbedingungen der griech. Nation / von
Emmanuel Sarides – Frankfurt (Main): R.G.
Fischer, 1980
ISBN 3-88323-196-7
c 1980 by Rita G. Fischer Verlag,
Alt-Fechenheim 73, D-6000 Frankfurt/Main 61
Alle Rechte vorbehalten
Herstellung: Druckhaus J. Knaack, Darmstadt
Printed in Germany
ISBN 3-88323-196-7
Emmanuel Sarides
Zum Verhältnis von Befreiungsbewegungen und Imperialismus,
Dargestellt am Beispiel der Entstehungsbedingungen der griechischen Nation
Wie schön und still und sanftgewiegt,
Der erste Schlaf des Todes liegt,
So liegt auch Hellas still und hehr,
Noch Hellas, doch es lebt nicht mehr,
So grabesschön, so lieblich kalt,
Doch seelenlos – Dich schaudert bald.
Liebreiz´ im Tod sind ihm verlieh´en,
Die nicht mit fließendem Leben flieh´en:
Unheimlich schöner Farbenduft,
Der ahnungsvolle Schmuck der Gruft,
Des Lebens Dämmerung bleich und fahl,
Ein Glorienschimmer um ein Todtenmahl,
Der sterbenden Empfindung Abschiedsstrahl,
Funk einer Gluth, die himmlisch wohl entstand –
Sie glimmt, doch wärmt nicht mehr ihr Lieblingsland
Aus dem „Giaur“ von Lord Byron
Einleitung
Der Romantiker Byron hatte recht, Hellas, das Land, für das er sich zur Zeit der sogenannten griechischen Revolution eingesetzt hatte, war längst gestorben, seine alte himmlische Glut glomm nur noch in der Phantasie seiner gebildeten Zeitgenossen. Selbst die Menschen, die auf seinem Boden lebten, waren keine Griechen mehr sondern Slawen, Albaner, Makedonier u.a.m., die nicht als Bürger die hellenischen Poleis bevölkerten, sondern sich als Bauern, Hirten oder Seeleute beschäftigten. Sie selbst verstanden sich auch als Balkanesen und keineswegs als Griechen. Etwa hundertfünfzig Jahre später halten sich freilich die Nachfahren jener Balkanesen doch für Griechen, sie verstehen sich als die Nachfahren der alten Hellenen, schöpfen ihr Selbstbewusstsein von jenen und glauben, wie jene auch, der Nabel der Welt zu sein. Die Frage, die sich hier drängt, lautet: Wie kommt es, dass die heutigen Griechen Griechen heißen, obwohl sie weder aus der Rasse der Alten stammen, noch Träger ihrer Kultur und Zivilisation sind?
Die vorliegende Arbeit will darüber eine Antwort geben. Sie ist der Versuch, eine neue These über die Entstehungsbedingungen der heutigen griechischen Gesellschaftsformation aufzustellen. Das Neue daran ist es, dass sie die Entstehung der griechischen Gesellschaftsformation als das Ergebnis zweier miteinander verknüpfter Faktoren begreift: Der Befreiungs- und Emanzipationsbewegungen der Balkanesen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, und des Eingreifens der expandierenden Mächte Europas, die sie zu ihren Zwecken, nämlich zur Auflösung des Osmanischen Reiches manipulierten und missbrauchten. In diesem Kontext wird die heutige griechische Gesellschaftsformation als das Produkt der imperialistischen Expansion der europäischen Mächte verstanden, die Griechen als die zu ihnen verwandten Balkanesen, die ihnen den Vorwand lieferten, sich in die inneren Angelegenheiten des Osmanischen Reiches zu intervenieren und es zu zerstückeln.
Diese These steht in völligen Gegensatz zur allgemeingültigen Auffassung über die Entstehungsbedingungen der griechischen Gesellschaftsformation. Nach der in Griechenland z.B. üblichen Auffassung, ist die Gründung des heutigen griechischen Staates das Werk des, seit homerischen Zeiten unverändert fortbestehenden, sogenannten griechischen Geschlechts, das die Jahrhunderte als eine griechische Nation überdauerte. Angeführt von ihren Heroen, erhob sich diese im Jahre 1821 gegen ihre osmanischen Unterdrücker und errang ihre Unabhängigkeit und staatliche Souveränität. Damit sind wir mittendrin in der Problematik, die die sogenannte Kontinuitätstheorie verursacht, wenn es darum geht, den heutigen griechischen Staat und seine Gesellschaft soziologisch, ökonomisch oder politisch zu untersuchen. Denn die Kontinuitätstheorie ist, wie der griechische Staat selbst, eine theoretisch-künstliche Konstruktion, die zur Legitimation der politischen Herrschaft der von den europäischen Mächten eingesetzten Schicht im neugegründeten Staat diente. Nach ihr erscheint die Staatskonstitution völlig losgelöst von der imperialistischen Expansion der europäischen Mächte, selbst die augenfälligsten Zusammenhänge zwischen ihnen werden außer Acht gelassen oder ignoriert. Die (negative) Rolle der Europäer beginnt erst, nachdem die Revolutionäre den griechischen Staat gegründet hatten und von ihnen anstelle einer Demokratie ein angeblich reaktionäres monarchistisches Regime aufgezwungen bekamen.
Eine solche Auffassung führt jeden Versuch, den man unternimmt, die vielfältigen sozialen, ökonomischen oder politischen Probleme des rückständigen und unterentwickelten Griechenland zu erklären, zwangsläufig zum Scheitern.. Da man die Existenz der griechischen Gesellschaftsformation nicht in ihren historischen Bezügen zum westeuropäischen Imperialismus setzt, die allein ein brauchbares Interpretationsschema liefern könnten, torkelt man hilflos zwischen den verschiedenen Theorien aus West und Ost, die im Falle Griechenlands selbstverständlich versagen müssen. Als Lösung bietet sich dann nur noch die plakative Anklage gegen Imperialismus und Ausbeutung, die aber faktisch unerkannt bleiben und häufig zu quasi mythologischen Phänomenen verklärt werden.
Die Mängel solcher Betrachtungsweisen liegen jedoch auf der Hand. Unerklärlich und historisch nicht nachvollziehbar bleibt zunächst der Abstieg der hochzivilisierten und politisch wie ökonomisch souveränen Hellas zum rückständigen Griechenland von heute und die Verwandlung der kultivierten Hellenen der Antike zu den halborientalischen, in Westeuropa quasi exotisch anmutenden Griechen der Gegenwart. Diese Kluft bleibt auch dann unüberbrückbar, wenn man, wie üblich, die 400-jährige Türkenherrschaft entschuldigend zur Rechtfertigung heranzieht. Schließlich sollen die Griechen, wie die Literatur sagt, während dieser Zeit das ökonomische Leben im Osmanischen Reich beherrscht haben und dabei riesige Kapitalien akkumuliert haben. Wo blieben diese Kapitalien nach der Konstitution des griechischen Staates, weshalb wurden sie nicht, wie überall in Westeuropa, in der Manufaktur und in der Industrie investiert? Zu all diesen Fragen und all den Anderen, die sich im vorgezeichneten Rahmen bewegen, vermag die Kontinuitätstheorie keine adäquate Antwort zu geben. Diesen Mangel will meine Arbeit beheben.
Die Arbeit gliedert sich in fünf Teile, die sich schwerpunktmäßig mit folgenden Themenbereichen befassen:
- Im ersten, einführenden Teil, wird der Nachweis erbracht, dass sich auf dem Raum des antiken Griechenland, nach dessen Untergang, fremde Völker niederließen, die dort heimisch wurden und im Laufe der Zeit eine eigene, von der Antike völlig unterschiedliche Kultur entwickelten. Aufgrund dieses Nachweises wird anschließend eine Auseinandersetzung mit der Kontinuitätstheorie geleistet und diese ad absurdum geführt.
- Im zweiten Teil wird das Osmanische Reich, das Land, aus dem das heutige Griechenland hervorging und welches sämtliche Territorien der griechischen Antike bis dahin in sich vereinigte, im Spannungsfeld der kolonialen Expansion der europäischen Großmächte gestellt. Nach ihrer Penetration darin beginnt der Prozeß der Integration seiner sozioökonomischen Kräfte, vor allem der Christlichen, im Handel der Europäer. Die Schichten der Christen verwandeln sich zu Vermittlungsagenten der europäischen Warenproduzenten und unterhöhlen dadurch die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen des Osmanischen Reiches.
- Im dritten Teil wird die wirtschaftliche und gesellschaftliche Struktur des Osmanischen Reiches vor der Penetration der Europäer gezeigt und die Stellung der christlich-orthodoxen Ethnie (Millyet) darin. Nach der Integration der Christen im europäischen Handel beginnt freilich sich der Kern einer besonderen Gesellschaft innerhalb der christlichen Millyet und im Schoße der Verwaltungshierarchie des christlich-orthodoxen Patriarchats, ihrer obersten politisch-religiösen Instanz zu bilden. Diese Gesellschaft wird in dem Maße ausstrukturiert, wie ihre Mitglieder in ihrer Position innerhalb der Verwaltungshierarchie der christlich-orthodoxen Millyet erstarken.
- Im vierten Teil werden die Zusammenhänge zwischen den europäischen Mächten und den Mitgliedern dieser Gesellschaft auf ökonomischem und politischem Gebiete hergestellt. Sie sind durch die Parallelität der Interessen gekennzeichnet. Während die Europäer neben dem Absatz ihrer manufakturellen Erzeugnisse zunehmend an der Bildung separatistischer Bewegungen zur Spaltung des Osmanischen Reiches interessiert sind, beginnen die Patriarchats-Christen nach Autonomie zu strebe.
- Im fünften Teil wird gezeigt, wie sich die Widersprüche des im 4. Teil in Gang gesetzten Prozesses verschärfen und unter der Regie der europäischen Mächte zu einem politischen Konflikt innerhalb der osmanischen Gesellschaft verwandelt, der sie, wie ein Pulverfass, auseinander zubringen droht. Seine Explosion, in der Form der sogenannten griechischen Revolution, bietet ihnen die Legitimation, im Namen der in Bedrängnis geratenen Christen in das Osmanische Reich zu intervenieren, sie zu befreien und in einen Satelliten-Staat als Griechen einzugrenzen.
Wie schon eingangs angedeutet, verfolgt die Arbeit das Ziel, einen griechischen Standpunkt zu erarbeiten, der den an griechische Probleme Interessierten einen adäquaten Untersuchungsrahmen liefern könnte und den griechischen Leser in die Lage versetzen würde, sich selbst und seine Umwelt besser als bisher zu erkennen. Angesichts der Komplexität einer solchen Intention fällt sie allerdings aus dem üblichen soziologischen Rahmen heraus, da sie sich gezwungenerweise in stärkerem Maße anderer wissenschaftlicher gebiete, insbesondere der Geschichte und der Politik, bedienen musste. Ihre Konzeption und ihre Gliederung sind zudem mit allen Kindheitsfehlern behaftet, die sich aus diesem wissenschaftlichen Wagnis ergaben. Trotz mehrmaliger Bearbeitung und Neugliederung gelang es mir nicht, die drückende Dominanz des geschichtlichen Elements auf ein niedrigeres Maß als hier der Fall ist zu reduzieren. Besondere Schwierigkeiten bereitete mir das Fehlen einer adäquaten Literatur, da die vorhandene griechische, und von ihr wiederum die sogenannte linke Literatur, nur noch auf der Grundlage der Kontinuitätstheorie existiert. Mit blick auf einen griechischen Leser, der wegen des Tabu Charakters, den die sogenannte Revolution hat, für diese Konzeption kaum ansprechbar sein dürfte, habe ich bestimmte Themenkreise ausführlicher behandelt, als wenn diese einem z.B. deutschen Publikum vorbestimmt wären. Dadurch aber, und wegen des umfangreichen Materials, das ich gesichtet und aufbereitet habe, gerät die Ausführung manchmal außer Rand, Wiederholungen sind nicht ausgeschlossen.
Das, was mich bei der Konzeption der Arbeit primär beschäftigte, war das Problem der griechischen Identität, bezogen auf die Kontinuitätstheorie. Die Einbeziehung der Slawen, Albaner, Makedonier, Paphlagonier u.a. völkischer Gruppenmitglieder in den griechischen Staat und ihre systematische Verwandlung zu Griechen, hat ihre Zugehörigkeit zum breiteren Balkan oder Kleinasiatischen Raum im Allgemeinen, sowie ihre Zugehörigkeit zu ihrer jeweiligen Region, die im Byzantinischen und Osmanischen Reich ihre eigentliche „Heimat“ war im Besonderen, völlig zerstört, wobei ihre frühere Identität verschüttet wurde. Alle soziokulturellen Werte, die im Byzanz und im Osmanischen Reich die spezifische kulturelle Tradition der einzelnen völkischen Gruppen ausmachten, wurden durch den rein ideologischen Rückgriff auf die griechische Antike und durch ihre Einbeziehung und Integration im kapitalistischen System Westeuropas und zwar in der Form, in der dies auch Griechenland erfasste, zersetzt, anstelle des verlorenen Alten trat jedoch in der politisch wie ökonomisch vom Westen abhängige griechische Gesellschaft nichts Neues, was ihnen zur Orientierung dienen könnte. Man überließ die frischgebackenen Griechen förmlich ihrem Schicksal und den Einflüssen, die in Griechenland vom westlichen Ausland herkamen und immer zweckgebunden waren. Auf dieser Weise verwandelten sie zu Griechen, weil es, vor allem, das gesamte Westeuropa von ihnen erwartete, genauso wie sie heute ihre Restaurationsbetriebe im Ausland Akropolis, Delphi, Sokrates u.s.w. benennen, um den Erwartungen und Wünschen ihrer meist gebildeten Kunden gerecht zu werden, unabhängig davon, dass die dort angebotenen Gerichte nicht griechisch Antik, sondern auch jugoslawisch, türkisch u.s.w. seien könnten. In dem Maße, wie das westliche Ausland Griechen kulturell mit Buzuki Musik gleichsetzt, ist dieses arabische Instrument in den letzten dreißig Jahren zum nationalen griechischen Instrument geworden. Der Beispiele sind viele. In diesem Sozialisationsrahmen reproduziert sich freilich eine Gesellschaft, deren mittlerweile völlig verstörte Mitglieder hilflos zwischen Orient und Okzident, zwischen den alten kulturellen Errungenschaften der Antikenzeit, und der heute dominanten Mentalität der Levantiner, zwischen dem Syrtaki tanzenden Alexis Sorbas und den Tänzen der Derwische ihre Identität suchen. Ob sie allerdings rational denkende Europäer werden oder kismetgläubige Orientalen, eins sind sie mit Sicherheit nicht: Traditionsbewusste Balkanesen, deren Bewusstsein vom gesamtbalkanesischen Potential gespeist und gestärkt wird. Das, was die Mehrheit von ihnen eigentlich hätte sein müssen.
Eine weitere Absicht dieser Arbeit ist es, die sich in Stagnation befindende wissenschaftliche Diskussion in Griechenland über die Entstehungsbedingungen der griechischen Gesellschaft zu beleben und die Denkenden herauszufordern, nach neuen Wegen zu suchen und, wie ihre angeblichen Vorfahren, manchen geistigen Höheflug zu riskieren, um die sich angehäuften Probleme im Lande materiell zu erklären und nicht wie üblich, sie im Rahmen des längst erstarrten griechischen Historismus ständig zu verklären. Der Weg dorthin führt freilich über manche zum Teil sehr gefährliche Klippen wie die bereits erwähnte Kontinuitätstheorie, die in Griechenland einen institutionalisierten Charakter hat und als ein nationales Tabu, eine heilige Kuh, betrachtet wird. Diese heilige Kuh gilt es hier zu enttabuisieren, um den Griechen den Weg zur eigenen Erkenntnis frei zu machen. Es sollte nicht mehr als „normal“ betrachtet und widerspruchslos hingenommen werden, dass Menschen wie z.B. meine Mutter, die mir ihre Muttersprache, ein slawisches Idiom, und ihre Dorflieder zum ersten mal vor etwa zwei Jahren verängstlicht ins Tonband flüsterte, sich kulturell nicht frei entfalten können oder dürfen, weil ihre Sprache und ihre Kultur nicht griechisch ist. Allein deswegen diese Arbeit zu verfassen war ich sehr stark motiviert, von meinen persönlichen Identitäts- und Bewußtseinsschwierigkeiten ganz zu schweigen. Erst beim schreiben dieser Arbeit merkte ich, wie ich auch körperlich verspannt war und in der Wahrnehmung meiner eigenen Interessen gehemmt.
Die Rückbesinnung auf die eigene Geschichte, wie sie hier unternommen wird, hat deshalb auch den Zweck, meinen in der durch die Kontinuitätstheorie in der Antike verfangenen Landsleuten ein wenig zu helfen, zu sich selbst zu finden und die eigene Identität aus der objektiven Realität der Gegenwart und der historischen Vergangenheit zu rekonstruieren und zu verinnerlichen. Nur dadurch und nicht bloß durch Antiimperialismus Aphorismen werden sie sich von der vielfältigen Abhängigkeit vom Westen, in der sie sich befinden, allmählich lösen können.
Für das Zustandekommen der Arbeit möchte ich Hartwig Berger, Urs Jäggi und Fritz Kramer herzlichst danken.
Ich widme diese Arbeit Tilla Siegel.
Die gesamte Arbeit in PDF-Format