“Integrationsfahrplan”: Transnistriens Optionen

Franz Krummbein
Igor Dodon Präsident der Republik Moldau mit dem Präsidenten der USA Donald Trump

Transnistrien (Pridnestrowien) ist ein schmaler Streifen auf der linken Seite des Dnjestr, eingezwängt zwischen Moldawien und der Ukraine. Dieser Sektor ist etwa fünfmal so lang und genauso breit wie der Gazastreifen.

 

Kein Staat der Welt erkennt Transnistrien an. Damit umfasst die Region nochca. 13 % der Bevölkerung bei 11 % des Territoriums der Republik Moldawien. Grundsätzlich bestehen zwei Möglichkeiten einer dauerhaften Lösung: es kann zur Republik Moldawien zurückkehren oder es muss versuchen, als unabhängiger Staat der Größenordnung von Luxemburg, Malta oder auch Island internationale Anerkennung zu erreichen. Ein unabhängiges Transnistrien und dessen internationale Anerkennung ist zwar das offizielle Staatsziel, wird aber von Beobachtern kaum als ernsthafte Möglichkeit in Betracht gezogen.

2003 stand der Konflikt bereits kurz vor einer Lösung. Im so genannten Kozak-Memorandum schlug der russische Vizepremier, Dmitri Kozak, eine „asymmetrische“ Föderalisierung Moldawiens unter Gewährleistung von Autonomieregelungen für Gagausien und Transnistrien sowie einen 30-jährigen Aufenthalt russischer Truppen in dem Land vor. Die Staatschefs Moldawiens und Transnistriens sprachen sich für diese Regelung aus. Doch durch eine Intervention des US-Botschafters in Kischinau scheiterte der Plan. Die USA präferieren einen Rückzug der russischen Soldaten und einen damit einhergehenden Einflussverlust Moskaus.

Im letzten Jahr hat sich viel getan, um die Dinge zu verbessern; auch internationale Vermittler waren aktiv. In einer Erklärung, die auch von Moldawien mitgetragen wird, bekennen sich die Mitgliedsstaaten der OSZE zu einer „umfassenden, friedlichen und nachhaltigen Lösung des Konflikts auf Grundlage der Souveränität und territorialen Integrität der Republik Moldawien innerhalb seiner international anerkannten Grenzen“.

“Dodon-Memorandum”: Neuer Wind für den Transnistrien-Konflikt

Unterdessen gab es auch beim international begleiteten Verhandlungsprozess zuletzt keinerlei Fortschritte. Wo ist der Ausgang?

Der moldauische Präsident Igor Dodon bietet Transnistrien föderative Wiedervereinigung an. Das Prinzip dahinter müsse klarerweise die territoriale Integrität und Souveränität Moldawiens, verbunden mit einem Sonderstatus für Transnistrien sein. Dodon skizzierte die Aussichten eines gemeinsamen Lebens zwischen Moldawien und Transnistrien und versprach den transnistrischen Einwohnern Russisch als zweite Amtssprache.

Dabei solle der Region eine breite Autonomie und “die Erhaltung von allem, was sie haben”, garantiert werden. Also auch “Eigentumsverhältnisse, Präsident, Parlament, Regierung, die Fahne, die Hymne, das Budget”. Mit Ausnahme der Aussen- und Sicherheitspolitik sowie der Justiz kann in Tiraspol alles selber entschieden werden, einschliesslich der Steuererhebung. Die Art der Wiedereingliederung von Transnistrien wird in einem Referendum entschieden. In diesem Fall sei der Dnjestr nicht mehr die letzte Berliner Mauer in Europa. Entscheidend sei, dass Moldawien einen Kurs dauerhafter Neutralität verfolge.

Falls Moldawien sich mit Rumänien vereinigt oder von seiner in seiner Verfassung festgeschriebenen Neutralität Abschied nimmt, muss Transnistrien das Recht auf Selbstbestimmung erhalten. Am wichtigsten seien die Parlamentswahlen in Moldawien im kommenden Jahr. Sollten Dodons Unterstützer gewinnen, werde auch die Regelung des Transnistrien-Konfliktes in Gang gesetzt. Früher erklärte Dodon, dass Moldawien  ohne Transnistrien und Transnistrien ohne Moldawien keine Zukunft hätten.

Doch um die territoriale Integrität des Landes aufrechtzuerhalten, was Putin unterstützt, muss Moldawien die Kontrolle über die komplette eigene Grenze herstellen. Dodon musste es tun, weil er sonst in Moldawien kaum unterstützt wird. Er muss sich an der Linie EU-Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) halten.

Alexander Rahr, Programmdirektor des Deutsch-Russischen Forums, sprach ebenfalls vom Versuch Dodons, gleichzeitig auf zwei Hochzeiten (EU und Russland) tanzen zu wollen. Ihm bleibe nichts anderes übrig, als bei der Aufrechterhaltung des europäischen Vektors, die Beziehungen zu Russland und der EAWU zu verbessern. Das Oberhaupt des moldauischen Staates stellte fest, dass es notwendig ist, den politischen Dialog voranzutreiben. Deswegen schlage Dodon Tiraspol direkte Verhandlungen im Dezember d. J. vor.

Das erste Treffen von Igor Dodon mit dem transnistrischen Staatschef Wadim Krasnoselski fand in der Stadt Bendery statt. Dort gibt es eine spätmittelalterliche Festung. Der Flug des Baron Münchhausen auf einer Kanonenkugel soll dort stattgefunden haben. „Wir haben viele Themen mit Vadim Krasnoselski besprochen, ich werde jede Annäherung zwischen den beiden Ufern des Dnjestr fördern und die Schritte zueinander unterstützen“, sagte Dodon. Der Präsident hat hervorgehoben, dass diese Abkommen das Ergebnis der Zusammenarbeit von Präsidialverwaltung, Regierung und Parlament sind, und fügte hinzu, dass dies wahrscheinlich das einzige Gebiet sei, auf dem man gleicher Meinung ist. (Regierung und Parlament verfolgen einen westlichen Kurs).


Dodon mit Wadim Nikolajewitsch Krasnoselski, Präsident des international nicht anerkannten Transnistriens

Auf Dodons Initiative hatten der moldawische Vizepremier für Reintegration, George Belan, und der transnistrische Außenminister Vitali Ignatjew vier Abkommen unterzeichnet, die auf die Verbesserung des Lebens und das Wachstum des Vertrauens der Bevölkerung auf beiden Dnjestr-Ufern gerichtet sind. Die Aufgaben, die von den Seiten gestellt wurden, betreffen die Deblockierung der Telefonverbindung zwischen Moldawien und Transnistrien, die Lösung der Probleme beim Gebrauch des lateinischen Alphabets in der nicht anerkannten Republik, die gegenseitige Anerkennung von Diplomen sowie den Zugang der moldawischen Landwirte zu landwirtschaftlichen Flächen, die durch das Grenzregime blockiert waren.

Dieser Zustand bringt einen bunten Strauß von Kuriositäten hervor. So erkennt beispielsweise die Moldawien die von Transnistrien ausgegebenen Autokennzeichen an, in Folge dessen melden manche Moldauer ihre importierten Fahrzeuge dort an, um in Genuss der dortigen weit günstigeren Zolltarife zu kommen, schreibt Jürgen Ehrke.

Natürlich ist es wichtig, dass gewisse Wege zur Lösung von praktischen Problemen festgelegt worden seien. Es entstand die Hoffnung auf eine Regelung des Transnistrien-Konflikts. Doch dann habe die regierende Mehrheit des moldawischen Parlaments Spannungen mit Moskau provoziert, was auch für den Dialog mit Tiraspol negative Folgen hatte. Tiraspol hat psychologisch gespürt, dass Kischinau keinen echten Dialog führen will. Der innenpolitische Kampf in Kischinau behindert die Einberufung des 5+2-Treffens und die Konfliktregelung im Allgemeinen. Ein anderer Stein des Anstoßes ist das Thema Abzug der russischen Friedenstruppen aus Transnistrien, worauf das Parlament in Kischinau besteht.


Tiraspol

Die Gräben zwischen Moldawien und Transnistrien sind tief und nicht nur zwischen den Politikern. Den Älteren sitzt der Krieg im Jahre 1992 noch in den Knochen. Während Igor Dodon von den „Menschen auf beiden Seiten des Dniestr“ sprach, war in den Erklärungen des Präsidenten von Transnistrien die Rede von „transnistrischen und moldawischen Völker“, die respektiert werden sollen. Was mit Transnistrien passiert, bleibt also spannend.

EU und “Integrationsfahrplan«

Es ist nicht ganz klar, warum Österreich als ES-Vorsitzender meint, dass jedes offizielle 5+2-Treffen mit der Unterzeichnung von umfassenden Vereinbarungen zwischen Kischinau und Tiraspol enden muss. (Am 5+2-Format sind Moldawien und Transnistrien als Konfliktseiten, Russland, die Ukraine und die OSZE als Vermittler sowie die USA und die EU als Beobachter beteiligt). In dieser Situation ist eine Politik der kleinen Schritte zum Scheitern verurteilt.

Während die Republik Moldawien eine wirtschaftliche, politische und militärische Annäherung an EU und NATO forcierte, stabilisierte sich Transnistrien als international nicht anerkannter Staat unter der Protektion Russlands. Tiraspol will weiterhin die Beziehungen zu den Ländern des Westens entwickeln, ohne die Verbindung mit Russland zu verlieren. Zudem will Transnistrien unabhängig von den Beziehungen zwischen Kiew und Moskau gute nachbarschaftliche Verbindungen mit der Ukraine aufnehmen. Tiraspol will überleben, was nur im Rahmen eines Kompromisses möglich ist.

Die EU bot der abtrünnigen Republik gewisse Vergünstigungen, wie beispielsweise zollfreier Handel mit der EU. Heute entfällt ein großer Teil des Transnistrien-Exports auf EU-Länder (60 Prozent), die USA und Kanada. “Beispielsweise werden bei uns österreichische Uniformen gefertigt“, sagt der 39-jährige Politiker Anatolij Dirun. Auch unspektakulärere Aktivitäten brachten und bringen Geld. So war Transnistrien zeitweise nach offiziellen Statistiken Weltmeister im Pro-Kopf-Verbrauch von Hühnerfleisch, die Hähnchenschenkel wurden allerdings nach der Einfuhr umgehend wieder zurück in die Ukraine geschmuggelt.

Die EU hat also ihre Taktik korrigiert und kann damit ein einflussreicher  Akteur  in Transnistrien werden. Und das wird Moskau berücksichtigen müssen. Russlands Neigung zu „eingefrorenen Konflikten“ im postsowjetischen Raum scheint als außenpolitisches Prinzip erschöpft zu sein.

Für oberflächlichen Beobachter scheint offenkundig: Die EU hat ein vitales Interesse daran, diesen Konflikt zu lösen. So argumentiert auch die Europäische Kommission: „Nicht anerkannte Kleinstaaten wie Transnistrien ziehen das organisierte Verbrechen an und können den Prozess der Staatenbildung, der politischen Konsolidierung und der nachhaltigen Entwicklung destabilisieren oder aus der Bahn werfen. […] Es liegt im eindeutigen Interesse der EU zu gewährleisten, dass diese gemeinsamen Herausforderungen bewältigt werden.“

Doch die Realitãt ist sehr viel komplizierter und chaotischer. Die wichtigste Voraussetzung für einen Erfolg ist eine Anerkennung des Verhandlungspartners auf Augenhöhe. Als Beispiel dient Igor Dodon. Sein historisches Vorbild ist der moldawische Gospodar – also Fürst – Ștefan cel Mare (Stefan der Große), der in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts erfolgreich gegen die benachbarten Großmächte kämpfte und mit Russland einen Bund schloss. In diesem Sinne will nun auch Dodon, womöglich mithilfe der Russischen Föderation, den abtrünnigen Teil der ehemaligen Moldawischen Sowjetrepublik wieder ins Kernland heimholen. Die Lehre aus der Politik von Ștefan cel Mare bleibt richtig: Immer die Interessen der anderen Seite mitdenken. Nicht Zusammenarbeit vorschlagen und gleichzeitig das klischierte Feindbild bedienen.

Trotz aller Plausibilität dieser Argumentation gibt es aber auch Gegenstimmen. Die aktuelle moldawische Regierung möchte in die EU, doch hat sie dafür in ihrem eigenen Land nur eine hauchdünne Mehrheit. Eine vollständige Reintegration Transnistriens, so die Überlegung, würde viele neue Wähler bringen, die prorussisch orientiert seien und den Westkurs des Landes untergraben könnten, schreibt “Der Standard”. Deshalb ist zumindest die aktuelle Regierung nicht mehr wirklich daran interessiert, Transnistrien zurückzuholen. Ein solcher Preis würde für eine Wiedervereinigung von vielen als zu hoch empfunden. Offen gestanden findet Igor Dodon auch in Transnistrien wenig Begeisterung für dieses ambitionierte Projekt.

Gagausien in Besorgnis

Transnistrien war nicht die einzige Region mit ethnisch-territorialen Konflikten mit der Zentralregierung in Kischinau. Als erste Territorialeinheit im Land erklärte die südmoldawische Region Gagausien 1990 ihre Unabhängigkeit. Kischinau hatte sich in der Vergangenheit herzlich wenig für Gagausien interessiert. Aber im Gegensatz zu Transnistrien kam es in Gagausien nur zu kleineren Kämpfen. 1994 fanden moldawische und gagausische Vertreter eine Lösung für die Gagausien-Frage und garantierten dem Gebiet territoriale Autonomie. Doch im turkbevölkerten Süden Moldawiens regt sich seitdem weiter Widerstand gegen die Zentralregierung. Die Führung der autonomen Region sagte bereits mehrmals öffentlich, dass die Region einen ähnlichen Status beantragen werde, falls Transnistrien den Sonderstatus bekomme.

160.000 Gagausen leben in Moldawien – ein Turkvolk, das traditionell auf Moskau setzt. Bestrebungen in Moldawien, sich wieder mit Rumänien zu vereinigen und damit der EU anzugehören, lehnen die Gagausen ab – aus Furcht vor Unterdrückung, sendete der Deutschlandfunk. Diplomatisch ging die gagausische Volksversammlung auf einen Konfrontationskurs zu Kischinau. In einer aktuellen Umfrage begrüßen übrigens nur gut zwei Prozent das EU-Assoziierungsabkommen mit Moldawien.

Im Juni 2014 forderte der ehemalige moldauische Präsident Mihai Ghimpu ein landesweites Referendum über die Abschaffung der Autonomie Gagausiens und behauptete öffentlich, Gagausien verdiene kein Recht mehr auf Autonomie. Laut Michail Formusal (von 2006 bis 2015 Regierungschef des autonomen Gebietes)  wird jetzt in Moldawien ein neues Feindbild  – Gagausien – geschaffen. „Im Juni 2014 gab es Attentate auf mich und den Vorsitzenden der Volksversammlung. Abgeordnete wurden als Geiseln genommen. Das geschah während einer Parlamentssitzung. Vor kurzem wurden die Waffenlager in den Polizeiwachen geräumt. Die Situation ist gefährlich und erinnert an die Ukraine. Es gibt Befürchtungen, dass mit Gagausien wie mit Donbass umgegangen werden kann“, so Formusal.

Das Autonomiemodell der Gagausen könnte zwar theoretisch durchaus als Muster für einen praktikablen Status Transnistriens dienen, schreibt Neue Zürcher Zeitung. Es geschieht nicht aber jetzt. Deshalb nimmt Tiraspol das Beispiel Gagausiens als Beweis der Unlust und der Unfähigkeit Kischinaus wahr, die Rechte der nationalen Minderheiten zu beachten.

Franz Krummbein  19. November 2018
Rubrik: Balkan/Osteuropa/Kaukasus

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert