Karl Marx: Der griechische Aufstand

„Ist auch der gegenwärtige griechische Aufstand, für sich allein betrachtet, im ganzen unbedeutend, so gewinnt er doch dadurch an Bedeutung, daß er den Westmächten einen Anlaß gibt, sich in die Angelegenheiten zwischen der Pforte und der großen Mehrheit ihrer Untertanen in Europa einzumischen“

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx – Friedrich Engels – Werke, Band 10, S. 132-134
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961
Geschrieben am 10. März 1854.
Aus dem Englischen.


[„New-York Daily Tribune“ Nr. 4039 vom 29. März 1854, Leitartikel]

<132> Der Aufstand unter den griechischen Untertanen des Sultans, der in Paris und in London solche Unruhe erregte, ist nunmehr unterdrückt worden; es wird jedoch nicht für unmöglich gehalten, daß er von neuem auflodert. In dieser Hinsicht können wir erklären, daß wir nach sorgfältiger Untersuchung der Dokumente, die die gesamten bisherigen Vorgänge betreffen, überzeugt sind, daß die Aufständischen ausschließlich unter den Bergbewohnern zu finden waren, die den südlichen Abhang des Pindus bewohnen und bei keinem anderen christlichen Volk der Türkei außer den frommen Freibeutern von Montenegro auf Sympathie gestoßen sind; und daß die Bewohner der Ebenen Thessaliens, welche die einzige zusammenhängende griechische Gemeinschaft bilden, die sich noch unter türkischer Herrschaft befindet, ihre Landsleute mehr fürchten als die Türken. Man darf nicht vergessen, daß dieser träge und feige Bevölkerungsteil sich nicht einmal zur Zeit des griechischen Unabhängigkeitskrieges zu erheben wagte. Der übrige Teil der griechischen Bevölkerung, der ungefähr 300.000 Seelen zählt, die sich auf die Städte des Reiches verteilen, wird von den anderen christlichen Völkerschaften so gründlich verabscheut, daß überall, wo Volksbewegungen erfolgreich gewesen sind, wie in Serbien und in der Walachei, alle Pfaffen griechischer Herkunft vertrieben und durch Priester der einheimischen Bevölkerung ersetzt worden sind.

Ist auch der gegenwärtige griechische Aufstand, für sich allein betrachtet, im ganzen unbedeutend, so gewinnt er doch dadurch an Bedeutung, daß er den Westmächten einen Anlaß gibt, sich in die Angelegenheiten zwischen der Pforte und der großen Mehrheit ihrer Untertanen in Europa einzumischen, unter denen die Griechen nur eine Million zählen gegenüber zehn Millionen <133> Vertretern der anderen Völkerschaften, die sich zur griechisch-orthodoxen Religion bekennen. Die Griechen des sogenannten Königreiches wie auch jene, die auf den Ionischen Inseln unter britischer Herrschaft leben, betrachten es natürlich als ihre nationale Mission, die Türken überall dort zu vertreiben, wo immer man die griechische Sprache spricht, und Thessalien und Epirus mit dem griechischen Staat zu vereinigen. Sie mögen sogar von einer byzantinischen Restauration träumen, obwohl sie im ganzen ein zu schlaues Volk sind, um an ein solches Wahngebilde zu glauben. Doch diese Pläne nationaler Ausbreitung und Unabhängigkeit von seiten der Griechen, die gegenwärtig, wie die kürzlich entdeckte Verschwörung des Priesters Athanasius beweist, durch russische Intrigen geschürt werden, und die auch von den Räubern der Berge proklamiert werden, ohne bei der Landbevölkerung der Ebene einen Widerhall zu finden – sie alle haben nichts mit den religiösen Rechten der türkischen Untertanen zu tun, mit denen man sie zu vermengen sucht.

Wie wir aus den englischen Zeitungen und einer Mitteilung erfahren, die im Oberhaus Lord Shaftesbury und im Unterhaus Herr Monckton Milnes gaben, soll die britische Regierung aufgefordert werden, wenigstens teilweise in Verbindung mit diesen griechischen Unruhen Schritte zu unternehmen, um die Lage der christlichen Untertanen der Pforte zu verbessern. Es wird in der Tat ausdrücklich gesagt, daß es das große Ziel der Westmächte sei, die Rechte der christlichen Religion in der Türkei auf gleichen Fuß mit denen der mohammedanischen Religion zu stellen. Nun bedeutet das überhaupt nichts, oder es bedeutet die Gewährung politischer und bürgerlicher Rechte Muselmanen wie Christen gegenüber, unabhängig von jeglicher Religionszugehörigkeit und Religion überhaupt. Mit anderen Worten, es bedeutet die vollständige Trennung von Staat und Kirche, von Religion und Politik. Doch der türkische Staat ist wie alle orientalischen Staaten auf die engste Verknüpfung, man kann fast sagen, Identität von Staat und Kirche, Politik und Religion gegründet. Der Koran ist für dieses Reich und seine Herrscher Quelle des Glaubens und des Rechts zugleich. Doch wie sollte es möglich sein, den Gläubigen und den Giaur, den Muselman und den Rajah vor dem Koran gleichzustellen? Um das zu tun, wäre es tatsächlich nötig, den Koran durch einen neuen Zivilkodex zu ersetzen, mit anderen Worten, die Struktur der türkischen Gesellschaft zu zerstören und auf ihren Ruinen eine neue Ordnung der Dinge zu errichten.

Andrerseits unterscheidet sich das griechisch-orthodoxe Bekenntnis von allen anderen Abarten des christlichen Glaubens hauptsächlich durch dieselbe Gleichsetzung von Staat und Kirche, von staatlichem und kirchlichem <134> Leben. Im Byzantinischen Reich waren Staat und Kirche so eng miteinander verwachsen, daß es unmöglich ist, die Geschichte des einen ohne die Geschichte des anderen zu schreiben. In Rußland finden wir die gleiche Identität, obgleich dort, im Unterschied zum Byzantinischen Reich die Kirche in das bloße Werkzeug des Staates verwandelt wurde, in ein Instrument der Unterdrückung im Innern und der Aggression nach außen. Im Ottomanischen Reich hat sich in Übereinstimmung mit den orientalischen Vorstellungen der Türken die byzantinische Theokratie derartig entwickeln können, daß der Priester einer Kirchengemeinde gleichzeitig der Richter, Bürgermeister, Lehrer, Testamentsvollstrecker, Steuereinnehmer – das allgegenwärtige Faktotum des staatlichen Lebens, nicht der Diener, sondern der Herr aller Arbeit ist. Der Hauptvorwurf, den man den Türken hierbei machen kann, ist nicht, daß sie die Privilegien der christlichen Priesterschaft beschnitten hätten, sondern daß es im Gegenteil dieser allumfassenden despotischen Bevormundung, Kontrolle und Einmischung der Kirche unter ihrer Herrschaft möglich gewesen ist, die ganze Sphäre des gesellschaftlichen Lebens zu durchdringen. Herr Fallmerayer schildert uns in seinen „Orientalischen Briefen“ recht amüsant, wie sehr ein griechischer Priester erstaunt war, als er ihm erzählte, daß der katholische Klerus keinerlei staatliche Gewalt besäße und keine profanen Pflichten habe. „Wie“, rief der Priester, „bringen es denn unsere katholischen Brüder fertig, die Zeit totzuschlagen?“

Es ist deshalb klar, daß die Einführung eines neuen Zivilkodex in der Türkei, eines Kodex, der ganz und gar von der Religion abstrahiert und auf eine völlige Trennung von Staat und Kirche gegründet wäre, nicht nur die Aufhebung des Mohammedanismus, sondern auch den Zusammenbruch der griechisch-orthodoxen Kirche, wie sie gegenwärtig in diesem Reiche besteht, bedeuten würde. Kann jemand überhaupt so leichtgläubig sein, allen Ernstes anzunehmen, daß es den ängstlichen und reaktionären Schwächlingen der gegenwärtigen britischen Regierung jemals in den Sinn kommen könnte, eine derart gigantische Aufgabe auf sich zu nehmen, die eine vollkommene soziale Revolution in sich schließt, und das in einem Lande wie der Türkei? Dieser Gedanke ist absurd. Man kann ihn nur zu dem Zweck nähren, dem englischen Volk und Europa Sand in die Augen zu streuen.

http://www.mlwerke.de/me/me10/me10_132.htm

28. Juni 2017
Rubrik: Balkan/Osteuropa/Kaukasus

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