Nation und Nationalismus

Nach Benedict Andersons Buch „Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism“ gibt es keine Nationen. Die „Nation“ ist eine Erfindung, ein Modell, das nur in bestimmten historischen Konstellationen möglich war

 

Teil 1: Einführung in die Analyse des Nationsbegriff

Im Folgenden wollen wir uns in loser Folge mit kurzen einführenden und zum Weiterlesen anregenden Texten, mit einem der wohl polarisierendsten Bereiche von Gesellschaft und der Kritik an ihren Verhältnissen auseinandersetzen: der Nation und im Besonderen, dem mörderischen Gift des Nationalismus (Gellner 1999: 88).

Dabei interessieren wir uns – nicht unzusammenhängend, aber auch nicht in einer festen Systematik vorgehend – für die umstrittensten, interessantesten und fruchtbarsten Ideen und Denkansätze, Begriffe und Ursprünge dieses unbenommen erfolgreichen, wenn auch in linken Zusammenhängen vielfach vermeintlich abschließend diskutierten Konzepts.

 Kritik

All die Kritik an der Nation, kann nicht verbergen, dass die Welt im 21. Jahrhundert fest in Staaten und vor allem der europäische Raum (auf diese Besonderheit werden wir noch einzugehen haben) in Nationen eingeteilt ist. Stellt der IS im arabischen Raum in brutalster Form die Legitimität und Funktion des Staates in Frage, so ist das Europa im Jahr 2015 in seine scheinbar natürlichen nationalen Grenzen eingeteilt.

Uns wird vermittelt – und wir nehmen es oft unvermittelt an – als blickten moderne Nationen wie Deutschland, Frankreich oder England auf eine jahrhunderte, wenn nicht jahrtausende alte währende Geschichte zurück, die schließlich dazu führt, dass unser Zusammenleben in festgesetzten – oft sehr willkürlich gezogenen – Grenzen seine Natürlichkeit, seine historisch unabdingbare, kaum zu kritisierende Form wahrt. Wir werden zeigen, dass hinter all der “lange währenden Geschichte” der Nation, eine konstruierte, mythische, da konstruierte, Geschichte steht, die kaum mit einer faktischen (im Sinne der historischen Wissenschaften an Fakten orientierte) Geschichte vereinbar ist.

 Identität

Die Zugehörigkeit zu einer Nation ist tief in unsere Identität eingeschrieben und ein universelles Konzept: Benedict Anderson stellt in seinem für die konstruktivistische Nationalismusforschung herausragendem Buch “Imagined Communities” (dt. “Die Erfindung der Nation”) fest, dass jeder Mensch heute eine “Nationalität ‚haben’” wird, “so wie man ein Geschlecht ‚hat’” (1988: 14).

Wir stehen also vor einem weitreichendem Problem, wollen wir fundamental verändernde Kritik an einem Konzept mit solch einer Tragweite üben. Die bloße Feststellung der Willkürlichkeit nationaler Vergesellschaftung macht die Nation nicht weniger wirklich und universell – sie bleibt ein in unsere Identität fest eingeschriebenes Konzept.

Stellen wir uns der Herausforderung die Nation Schritt für Schritt in ihrer Gänze und Wirkung darzustellen, ihre (historische) Leistung anzuerkennen, – in diesem Zusammenhang auch die historische Niederlage des Marxismus dem Konzept des Nationalen keine fruchtbare Alternative geboten zu haben; sich mit dem Konzept der Nation nur unzureichend zu beschäftigen – ihren mörderischen Charakter zu entlarven, ihre Wirkung und ihren Fortbestand aber zu aller erst zu verstehen, zu thematisieren, zu kritisieren.

Teil 2: “Imagined Communities” – Die Erfindung der Nation

Wenn wir im ersten Teil meinten, dass wir im Folgenden nur mit sehr kurzen, einführenden Texten das Konzept der nationalen Vergesellschaftung beleuchten, ist der folgende Text wohl der Beweis dafür, dass wir die wichtigsten Denkansätze und Konzepte in nur sehr oberflächlich nachzeichnen wollen. Eine ausführliche, die gesamten Konzeptionen in ihrer Wirkung erfassenden Analyse, können wir an dieser Stelle nicht leisten, vielmehr versuchen wir mit unseren Beiträgen zum kritischen Weiterlesen anzuregen.

Benedict Andersons Konzeption der Nation als “vorgestellte Gemeinschaft” (im engl. das gleichnamige Werk „imagined communities“, 1983) gilt sicher als das Schlüsselwerk in der konstruktivistischen Nationalismusforschung.

Anderson kennzeichnet die Nation als kulturelles Produkt “einer besonderen Art”, weshalb er nach den kulturellen Wurzeln des Nationalismus sucht und der Frage nachgeht, warum eben diese “kulturellen Kunstprodukte” ausgesprochen anziehend wirken (Anderson 1988: 14), die für ihn vor allem darin deutlich wird, dass Menschen für die Nation nicht nur zu töten, sondern auch zu sterben bereit sind (Anderson 1988: 17) (vgl. Räthzel 1997: 77).

 Die „vorgestellte politische Gemeinschaft“

Anderson definiert die Nation als “eine vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän. Vorgestellt ist sie deswegen, weil die Mitglieder selbst der kleinsten Nation, die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert“ (1988: 15).

Zwar seien alle Gemeinschaften, „die größer sind als die dörflichen mit ihren Face-to-face-Kontakten, vorgestellte Gemeinschaften“ (Anderson 1988: 16), doch würden sie sich im Inhalt der entsprechenden Vorstellung (vgl. Sarasin 2001: 27), der Art und Weise in der sie vorgestellt werden, unterscheiden.

Die Art und Weise der Vorstellung meint in diesem Falle also die bestimmte Form der Erinnerung, Manifestation und Bestätigung der Gemeinschaft, die eben kein “echte” (wie die dörfliche), sondern “vorgestellte” (in diesem Fall: nationale) Gemeinschaft ist.

Bezeichnet Gellner (1964: 169) die Konstruktion der Nation als “Erfindung” und assoziiert diesen Begriff mit “’Herstellung‘ von ‚Falschem’” (Anderson 1988: 16), grenzt sich Anderson von ihm ab, wenn er vielmehr den kreativen und subjektiven Akt der Vorstellung herausstellt; die Vorstellung der Nation wird so zu einem Aneignungsprozess, bei dem es nicht um die Authentizität der Gemeinschaft geht, vielmehr interessiert ihn wie die Faktizität dieser Fiktion wirken, wie die Nation gerade zum Faktum erhoben wird.

Besonders eindrücklich weist Anderson den Prozess der Vorstellung der Gemeinschaft am Beispiel des Lesens einer Zeitung nach: “Dieser Massenzeremonie (…) ist ein Paradox zu eigen. Sie wird in zurückgezogener Privatheit vollzogen (…) aber jedem Leser ist bewusst, daß seine Zeremonie gleichzeitig von Tausenden (oder Millionen) anderer vollzogen wird, von deren Existenz er überzeugt ist, von deren Identität er jedoch keine Ahnung hat. Darüber hinaus wird diese Zeremonie über das ganze Jahr hinweg in täglichen oder halbtäglichen Intervallen wiederholt. Kann man sich ein anschaulicheres Bild für die säkularisierte, historisch gebundene und vorgestellte Gemeinschaft denken?“ (Anderson 1988: 41).

Gleichheit  und Emanzipation

Die Nation wird als souverän vorgestellt, “weil ihr Begriff in einer Zeit geboren wurde, als Aufklärung und Revolution die Legitimität der als von Gottes Gnaden gedachten hierarchischdynastischen Reiche zerstörten. (…) Deshalb träumen Nationen davon frei zu sein (…) Maßstab und Symbol dieser Freiheit ist der souveräne Staat“ (Anderson 1988: 16). Anderson verweist hier auf den historisch emanzipatorischen Anspruch der Nation, die sich vom absolutistischen Herrscher in der Französischen Revolution unter dem Wahlspruch der “Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit” entledigte und sich (das “Volk”) zum Souverän erklärte.

“Schließlich wird die Nation als Gemeinschaft vorgestellt, weil sie, unabhängig von realer Ungleichheit und Ausbeutung, als ‚kameradschaftlicher‘ Verbund von Gleichen verstanden wird“ (Anderson 1988: 17).

Ein besonders interessanter Aspekt, den Anderson hier beleuchtet: eine der historischen Leistungen der Nation ist und war es, den unüberwindbaren Gegensatz von Kapital und Arbeit (von Bourgeoisie und Proletariat) in ein Verhältnis der Differenz zu transformieren. Die Beschwörung der nationalen Einheit, das Versprechen nach universeller Gleichheit innerhalb der Grenzen der Nation, kann durchaus als ein wirksamens Instrument erkannt werden Klassenkämpfe einzudämmen (vgl. Arendt, zit. n. Jafroodi 2000: 51f). Schließlich wendet sich die Nation gegen sich selbst: aus einem einst für Emanzipation stehenden Begriff (Überwindung der feudalen Ständegesellschaft), ist die Nation heute auch Bewahrer der kapitalistischen (Schicht- oder) Klassengesellschaft. Ideologiekritik muss die Kritik an der nationalen Gesellschaft beeinhalten: die Unterschicht in England gleicht der Unterschicht in Frankreich vielmehr als der oberen Mittelschicht in England und doch beschwört wird die Nation als „Verbund von Gleichen“ verstanden. Und noch mehr: sie definiert die „Anderen“, die die nicht „gleich“ sind (zur Konstruktion von nationalen Ethnien innerhalb der Kultur- und Staatsnation in späteren Teilen mehr).

 Emotionale Leere

Andersons Konzeption der Nation als vorgestellte Gemeinschaft, verweist auf das Füllen einer “emotionalen Leere“, die “durch den Rückzug, die Auflösung oder die fehlende Verfügbarkeit wirklicher menschlicher Gemeinschaften und Verbindungen entstanden ist“ (Hobsbawm 1991: 59). Mit dieser Analyse Eric Hobsbawms abschließend, widem wir uns im nächsten Teil dem “Zusammenbruch der Gemeinschaft”, als (historische und sozialstrukturelle) Voraussetzung zur Entstehung von Nationalstaaten.


Literatur:

-Anderson, Benedict 1988: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Campus, Frankfurt am Main/New York

-Gellner, Ernest 1999: Nationalismus. Kultur und Macht, Siedler Verlag, Berlin

-Gellner, Ernest 1964: Thought and Change, Weidenfeld and Nicholson, London

-Goltermann, Svenja 2001: Identität und Habitus. Konzepte zur Analyse von “Nation” und “nationalem Bewusstsein”, In: Jureit, Ulrike (Hg.): Politische Kollektive. Die Konstruktion nationaler, rassischer und ethnischer Gemeinschaften, Westfälisches Dampfboot, Münster

-Hobsbawm, Eric 1991: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Campus, Frankfurt am Main/New York

-Jafroodi, Maziar 2000: Gesellschaftliche Modernisierung und nationale Identität. Zur Entstehung, Entwicklung und Perspektive des Nationalbewusstseins, ibidem-Verlag, Stuttgart

-Räthzel, Nora 1997: Gegenbilder. Nationale Identitäten durch Konstruktion des Anderen, Leske und Budrich, Opladen

-Sarasin, Philipp 2001: Die Wirklichkeit der Fiktion. Zum Konzept der imagined communities, In: Jurei, Ulrike (Hg.): Politische Kollektive. Die Konstruktion nationaler, rassischer und ethnischer Gemeinschaften, Westfälisches Dampfboot, Münster

Quelle: http://neueperspektive.blogsport.eu/2015/05/05/nation-und-nationalismus-teil-1-2/

27. August 2017
Rubrik: Nation, Nationalismus

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