So leben wir vom deutschen Kindergeld

Peter Hell und Frank Schneider
Foto: dortmundecho.org

In Deutschland tobt die große Kindergeld-Debatte. 268 336 Eltern bekommen es im EU-Ausland vom deutschen Staat für ihre Kinder. Das ist legal, denn wer hier arbeitet oder seinen Wohnsitz hat, kann Kindergeld beantragen.

 

Duisburgs Oberbürgermeister Sören Link (SPD) warnte davor, dass Sinti und Roma gezielt Menschen aus Osteuropa nach Deutschland schleusen, nur um hier Kindergeld zu kassieren. Stimmt das?

BILD AUF SPURENSUCHE ZWISCHEN BULGARIEN UND DORTMUND.

Kamen von Bulgarien nach Deutschland: Ricky (20, r.) mit seiner Familie in ihrer Wohnung in der Dortmunder Nordstadt. Sie bekommen 1500 Euro Sozialleistungen pro Monat
Kamen von Bulgarien nach Deutschland: Ricky (20, r.) mit seiner Familie in ihrer Wohnung in der Dortmunder Nordstadt. Sie bekommen 1500 Euro Sozialleistungen pro Monat Foto: Dominik van Alst

 

Stolipinovo ist ein Beton-Ghetto am Rand von Plovdiv, Bulgariens zweitgrößter Stadt. Der Stadtteil ist mit 50 000 Einwohnern das größte Roma-Viertel Europas.

Die Menschen leben in heruntergekommenen Wohnblocks. Zwischen Müll, Dreck. Die Arbeitslosenquote beträgt 90 Prozent. Selbst die Polizei traut sich kaum noch in das Viertel, die Menschen werden sich selbst überlassen.

Remzi A. (40) zu BILD: „Plovdiv ist Sch***e. Wir ersticken hier im Müll. Die Kinder sind krank und die Regierung lässt uns im Stich. Ist klar, dass wir alle nach Deutschland wollen.“ Es sind 36 Grad, der Geruch von verwesendem Fleisch zerschneidet die Luft. Vor den Beton-Klötzen spielen Kinder in verdreckten Kleidern im Müll, suchen nach Essensresten.

Ein kleiner Junge isst von einem alten Stück Brot, seine einzige Mahlzeit. Sein Name ist Ramadan (5), gefunden hat er das Brot neben einem verwesten Schafskadaver.

In diesen verfallenen Beton-Blöcken im Stadtteil Stolipinovo wohnen viele Menschen, die meisten sind Roma
In diesen verfallenen Beton-Blöcken im Stadtteil Stolipinovo wohnen viele Menschen, die meisten sind Roma Foto: Dominik van Alst

Ein Teil von Stolipinovo wird von den Bewohnern tatsächlich „Dortmund” genannt. Der Grund: Tausende sind von hier aus ins 2100 Kilometer entfernte Ruhrgebiet aufgebrochen, um dort Arbeit zu finden oder wenigstens Kindergeld und Sozialleistungen zu bekommen.

Alltag im Armenhaus Europas: Ramadan (5) hat gerade im Müll ein altes Stück Brot gefunden, Vater Branco (49) sucht weiter nach Essensresten für die Familie
Alltag im Armenhaus Europas: Ramadan (5) hat gerade im Müll ein altes Stück Brot gefunden, Vater Branco (49) sucht weiter nach Essensresten für die FamilieFoto: Dominik van Alst

Denn wer mit seiner Familie in Deutschland einen festen Wohnsitz anmeldet, hat nach EU-Recht auch Anspruch auf Kindergeld in Deutschland. Das weckt Begehrlichkeiten bei den Ärmsten der Armen.

Auch bei Ceged Nasgoangelo (39), Vater von sechs Kindern und arbeitslos: „Ich habe eine große Familie, will unbedingt nach Deutschland. Dort gibt es viel Kindergeld für alle.“

In Bulgarien bekommt man pro Kind 20 Euro Kindergeld pro Monat, in Deutschland sind es 194 für die ersten zwei, 200 Euro für das dritte und 225 Euro ab dem vierten Kind. Cegeds Familie wohnt in einem Beton-Klotz. Kaputte Fenster, offene Elektrokabel, im Hinterhof liegt meterhoch Müll. Das Badezimmer der Familie: auf dem Betonboden ein Eimer – die Toilette. Kaltes Wasser zum Duschen kommt aus einem alten Schlauch in der Wand.

Ceged Nasgoangelo (39) mit seiner Tochter Mitka (1) im Badezimmer: darin nur ein Eimer und ein Wasserschlauch
Ceged Nasgoangelo (39) mit seiner Tochter Mitka (1) im Badezimmer: darin nur ein Eimer und ein Wasserschlauch Foto: Dominik van Alst 

Mehr kann sich der arbeitslose Ceged nicht leisten. Vom bulgarischen Staat erhält er 250 Euro Sozialleistungen und Kindergeld. Er sagt: „Ich will nur weg nach Deutschland. Dort gibt es für unsere Kinder viel Geld.“ Wenn die Familie sich in Deutschland anmeldet, wären das bei sechs Kindern 1263 Euro.

Andere Männer, die ihren Namen nicht in der Zeitung sehen wollen, erzählen BILD, dass Familienmitglieder bereits in Deutschland gemeldet sind, hier Kindergeld kassieren – und einen Teil des Geldes an Verwandte nach Plovdiv schicken.

Mittlerweile hat sich im Slum eine Art Armutsindustrie gebildet. Ständig fahren Busse Richtung Deutschland (50 Euro pro Person). Doch wer nach Deutschland geht, braucht Hilfe: Übersetzungen für Dokumente, Anträge fürs Kindergeld.

In diesem unscheinbaren Kiosk gibt es Papiere für Deutschland
In diesem unscheinbaren Kiosk gibt es Papiere für Deutschland Foto: Dominik van Alst 

Am Rand des Slums steht ein weißer Kiosk. Hier gibt es keine Zigaretten oder Bier, Inhaber Jusuf Dene (50) besorgt seinen Landsleuten alles, was man in Deutschland braucht. Der ehemalige Boxer zu BILD: „Wir übersetzen Anträge für die Behörden, haben Formulare, verkaufen Tickets nach Deutschland.”

Häufig das Ziel: die Dortmunder Nordstadt. Hier leben 55 000 Menschen, mehr als 45 Prozent besitzen einen ausländischen Pass, viele haben Migrationshintergrund.

BILD-Reporter Peter Hell (53) in Plovdiv
BILD-Reporter Peter Hell (53) in Plovdiv Foto: Dominik van Alst 

Die Polizei hat mit Razzien und verstärkten Kontrollen die Kriminalität stark gesenkt. Trotzdem gilt die Gegend hinterm Hauptbahnhof weiter als Multiproblemviertel.

Hier lebt Bulgare Ricky (20) mit seiner Familie. Vor acht Jahren kam er mit Eltern und zwei Geschwistern (3, 12) von Plovdiv nach Dortmund, bezieht jetzt Sozialleistungen. Inklusive Kindergeld sind es 1500 Euro.

Überblick unmöglich: Auf den Briefkästen im Dortmunder Hausflur stehen ständig neue Namen von zugezogenen Bulgaren
Überblick unmöglich: Auf den Briefkästen im Dortmunder Hausflur stehen ständig neue Namen von zugezogenen Bulgaren Foto: Dominik van Alst 

Zwei Jahre arbeitete Ricky als Koch, dann wurde er arbeitslos, genau wie Vater Wasil (39). Ricky ist trotzdem zufrieden: „Eine Familie mit drei oder vier Kindern kommt auf fast 800 Euro, die Wohnung wird auch bezahlt, dazu das Arbeitslosengeld. Deshalb ist Deutschland für mich das beste Land.“
Hauptkommissar Detlef Rath kennt das Viertel gut, nur bei den Bewohnern wird‘s schwierig. „Das Problem ist, dass wir gar nicht wissen, wer hier gemeldet ist. Viele melden sich hier nur an, um Kindergeld zu beantragen. Und verschwinden dann wieder.“

Quelle: https://www.bild.de/news/ausland/bulgarien/ein-ganzer-stadtteil-heisst-hier-dortmund-56646012.bild.html#remId=1599780820815232442

Peter Hell und Frank Schneider  15. August 2018
Rubrik: Minderheiten/Flüchtlinge/Migration

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