Der Artikel ist ein Referat, das ich bei der „28. Internationalen Hochschulwoche“ in Tutzing bei München am 16. Oktober 1986 gehalten hatte. Mehr als 30 Jahre später sind in Griechisch Thrakien die Spannungen und der Einfluss der Türkei mächtig gewachsen
Am 7. November 1983 reichte der griechische Staatsbürger muslimischer Konfession Herr Aydın Ömeroğlu „im Namen von sechs Gruppen der türkischen Minderheit in Westthrakien“ aus der Bundesrepublik Deutschland beim Europäischen Parlament eine Petition ein. Die Petition, registriert unter der Nr. 55/83, beinhaltet eine Beschwerde über die Einschränkung der Rechte der muslimischen Minderheit in Griechisch Thrakien.
Im Einzelnen handelt sich um folgendes:
- Die Muslime dürfen Grundstücke weder erwerben, noch ihre eigenen an andere Muslime veräußern;
- Die Genehmigung zur Errichtung neuer- und zum Ausbau bestehender Gebäude wird ihnen verweigert;
- In den Schulen wird die Anzahl der türkischen Lehrer schrittweise reduziert, der Unterricht in griechischer Sprache wird auf Kosten des Türkischen verstärkt; Das Niveau und die Qualität des Unterrichts habe sich in den letzten Jahren verschlechtert, in den in türkischer Sprache unterrichteten Fächer werden immer weniger qualifizierte Lehrer eingestellt.
Herr Ömeroğlu und die weiteren fünf Mitunterzeichner der Petition, fordern „die Einstellung dieser willkürlichen Praktiken“, die Abschaffung des Gesetzes Nr. 1366/1938, das „eigentlich nur für Ausländer gelten sollte“, und die Aufhebung der Überwachung des Gebietes, „wo rund 20.000 Moslems leben“. Das Europäische Parlament solle den Beschwerden nachgehen, einen Bericht darüber ausarbeiten und die Missstände in der Region Thrakien beseitigen.
Es ist selbstverständlich nicht möglich, an dieser Stelle auf die erhobenen Vorwürfe einzeln einzugehen und sie auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. In der türkischen Tagespresse werden häufig ähnliche Vorwürfe gegen die griechische Regierung erhoben und der Verband der muslimischen Lehrer Thrakiens hat sich in einer Denkschrift an das Ministerium für Erziehung und religiöse Angelegenheiten in Athen im Frühjahr 1978 über schulische Probleme beklagt, die sich denjenigen der Petition verblüffend ähneln. Der griechischen Presse kann außerdem entnommen werden, dass es seitens der thrakischen Muslime Beschwerden gegen eine geplante Enteignung von Grund und Boden gegeben hat, der sich in ihrem (Großgrund)Besitz befindet. Der Boden sollte der Errichtung bzw. Erweiterung der Universität in Komotini dienen, seine Enteignung unterlag den gleichen Modalitäten, die in solchen Fällen für Christen wie Muslime allgemein üblich sind.
Vorwürfe der Diskriminierung der muslimischen Minderheit, die sich unter anderem auf die gleichen Sachverhalte wie in der Petition beziehen, so z.B. Erschwernisse beim Erwerb von Gewerbeerlaubnissen und Führerscheinen, Vergabe von Krediten und Erlaubnissen, neue oder alte Gebäude zu bauen oder zu reparieren, darunter sogar baufällige Moscheen zu restaurieren, sind häufig und aus verschiedenen Anlässen erhoben, in Griechenland, der Türkei oder im westlichen Europa. Ihre Untersuchung sollte jedoch Aufgabe der griechischen Regierung sein, oder, vorbehaltlich ihrer Zustimmung, einer von dem Europäischen Parlament einzusetzenden Kommission. Ein Höchstmaß an Objektivität wäre von einer wissenschaftlichen Untersuchung zu erwarten, die gemeinsam von einer entsprechenden Institution des westlichen Europas und einer griechischen Universität vorgenommen werden könnte.
Wenn aber zu den einzelnen Vorwürfen nicht Stellung bezogen werden kann, so ist es hier möglich, die allgemeine Problematik der muslimischen Bevölkerung in Griechisch Thrakien in der dargebotenen Kürze zu skizzieren und diese mit der Petition in einen Zusammenhang zu bringen.
Bei den Muslimen Thrakiens handelt es sich um den kleinen Rest der muslimischen Bevölkerung Griechenlands, der nach einem Abkommen, das im Juli 1923 in Lausanne zwischen Griechenland und der Türkei unterzeichnet wurde, von der vereinbarten Zwangsumsiedlung ausgenommen wurde und als eine muslimische Minderheit (Art. 45 des Abkommens) in Griechenland verbleiben durfte. Im Gegenzug durfte etwa die gleiche Anzahl von Christen, denen ebenfalls der Status einer Minderheit zuerkannt wurde, in Istanbul und den beiden Inseln Imbros und Tenedos verbleiben.
Signifikante Probleme interethnischer Symbiose zwischen Christen und Muslimen gab es in Thrakien bislang nicht. Die Muslime haben grundsätzlich die gleichen Rechte und Pflichten wie jeder griechische Staatsbürger auch. Da sie von den Reformen Kemal Atatürks nicht betroffen wurden, haben sie als Minderheit diejenigen gesellschaftlichen Organisationsformen ausbewahrt, die zur Zeit des Osmanischen Reiches üblich waren: Je ein Mufti, der in den thrakischen Städten Xanthi, Komotini und Didimotichon residiert, zeichnet sich zuständig für die zivile Gerichtsbarkeit und regelt Eheschließungen und Ehescheidungen, Vormundschaften und Testamente und ist außerdem zuständig für die Verwaltung der Moscheen. Den Muslimen stehen 261 Grundschulen und zwei Gymnasien, außerdem zwei Medressen, Hochschulen für Theologie, und eine Pädagogische Hochschule zur Ausbildung von Lehrern (im makedonischen Thessaloniki) zur Verfügung. Ein Teil der Lehrer kommt aus der Türkei.
Ihre Beziehungen zu den Christen sind in der Regel frei von Konflikten, die Pontos-Griechen, Aussiedler aus dem kleinasiatischen Schwarzmeer (Pontos) Gebiet, ziehen sogar die Kommunikation mit den Muslimen derjenigen mit den orthodoxen Griechen oft vor, da sie mit ihnen über die türkische Sprache mehr Berührungspunkte finden.
Dennoch weist die Situation der Muslime eine Reihe von Problemen auf, die ihren Grund in der griechischen Auffassung des Nations-Begriffs haben. Im Postulat der Kontinuität wird die griechische Nation, griech. „Ethnos“, als die ununterbrochene Folge eines griechischen Geschlechtes definiert, das von der Gegenwart bis zur frühesten Antike historisch als ein „Genos“, ein Geschlecht zurückverfolgt werden kann. Dementsprechend und analog der alten, im Osmanischen Reich üblichen „nationalen“ Einteilung in Muslim, für alle Muslime, und Rum, für alle orthodoxe Christen, ohne Unterschied der Sprache oder völkischen Gruppenzugehörigkeit, sind die Muslime für die Mehrheit der Griechen Türken, die der national determinierten griechischen Gesellschaft nur bedingt zugerechnet werden können. Da es nichtchristliche ethnische Gruppen in der griechischen Konfessionsnation historisch keinen Platz haben, als „andersethnisch“/andersrassisch“ dagegen immer als Feinde betrachtet wurden, vor denen eine „tödliche“ Bedrohung für das griechische „Genos“ ausgeht, war die Ausgrenzung und Stigmatisierung der Muslime in Thrakien schon 1923 vorprogrammiert.
Hinzu kam, dass die griechische Regierung 1954, zu Beginn der Zypernkrise, den in Lausanne vereinbarten Status der muslimischen Minderheiten einseitig änderte, sie sollten fortan nicht „muslimisch“, sondern „türkisch“ heissen. Nach Meinung mancher Autoren war dies eine Geste, die den guten Willen und das Entgegenkommen Griechenlands gegenüber der Türkei bezeugen sollte. Die Muslime sprechen dagegen von dem Beginn eines „mukabiliyet-“ oder „misilleme sistemi“, eines Vergeltungssystems, das eine Antwort auf die Verfolgung der Griechen in Istanbul sein sollte und ihre allmähliche Vertreibung zum Ziel hatte.
Diese Annahme wird durch die quasi Flucht einer hohen Anzahl von Muslimen bekräftigt, die Griechenland legal und illegal verlassen hat. Da es amtlich keine Angaben über die Gruppen der Minderheiten gemacht werden, ist auch die Zahl ihrer Mitglieder soweit unbekannt und kann nur geschätzt werden: Bei der statistischen Erhebung von 1951, der letzten Erhebung, bei der es auch nach der Konfession und Muttersprache der Bevölkerung gefragt wurde, waren in Thrakien etwa 113.400 Muslime registriert worden, davon gehörten 93.900 der türkisch-sprachigen Minderheit, 18.700 waren Pomaken und 800 Zigeuner. Bei der letzten statistischen Erhebung 1981 wurden, nach noch nicht veröffentlichten Zahlen, etwa 109.000 Muslime registriert, davon gehörten etwa 60.000 der türkischsprachigen Minderheit, 37.000 waren Pomaken und 12.000 Zigeuner. Etwa 34.000 türkischsprachige Muslime haben demnach Griechenland verlassen und sich in die Türkei, vor allem in Istanbul, niedergelassen, ein Teil von ihnen befindet sich in der Bundesrepublik Deutschland (Gastarbeiter).
Damit wird der zweite Punkt der muslimischen Problematik sichtbar. Da die Muslime Thrakiens pauschal als Türken, oder als eine türkische Minderheit bezeichnet – und behandelt werden, wird die Situation der beiden nicht türkischsprachigen Minderheiten, Pomaken und Zigeuner, völlig ausgeblendet, die mit der Türkei nicht im Entferntesten etwas zu tun haben. Und es gibt auch eine dritte muslimische Minderheit, die kaum jemand kennt, denn neben den slawischsprachigen Pomaken und den Zigeunern (Gyfti, Turkogyfti) gibt es noch die schwarzen Muslime der Gemeinde Evlalon, die aus dem Sudan abstammen sollen.
Während die Zigeuner und die schwarzen Muslime jedoch mehr oder weniger als soweit „türkisiert“ gelten, grenzen sich die Pomaken sowohl von den türkischsprachigen Muslimen als auch von den Christen aus, eine Ausgrenzung, die ihnen – zumindest von der griechischen Seite – quasi aufoktroyiert wird. Ihre Siedlungsgebiete befinden sich in einem etwa 20 Kilometer breiten Gürtel entlang der griechisch-bulgarischen Grenze, am Südhang der Rhodopen-Gebirge, der seit dem Zweiten Weltkrieg und dem anschließenden Bürgerkrieg ein polizeilich/militärisches Sperrbezirk darstellt, das ohne behördliche Genehmigung nicht betreten werden darf. Sie verfügen über keine Schriftsprache: Der Schulunterricht findet in griechischer und türkisch/arabischer Sprache statt, die Lehrer sind Griechen, die muslimischen Hocas sind für die Koran-Exegese zuständig, das Erlernen der eigenen Muttersprache geschieht lediglich im Kreise der Familie. Seitens der Hocas und der zahlreichen diplomatischen Vertreter des türkischen Konsulats in Komotini sind sie einem intensiven „Türkisierungsprozeß“ ausgesetzt, während die Griechen sind bemüht, sie als Griechen zu gewinnen, indem sie ihre Abstammung auf Byzanz oder die griechische Antike verlegen.
In diesem Kontext muss man sich dann fragen, ob es Herrn Ömeroğlu gelungen ist, in seiner Petition die Problematik der Muslime in Thrakien „richtig“, d.h. von den Interessen aller Muslime Thrakiens dargestellt zu haben, sowohl das Recht der nicht türkischsprachigen Minderheiten auf Anerkennung und Förderung, als auch manche – wohl politisch motivierte – Forderungen und Implikationen wie die Bezeichnung „Westthrakien“ für die Region Thrakien (ein türkeitürkischer Terminuns) und vor allem das Verschweigen der besonderen Minderheit der Pomaken und Zigeuner, die den wohlgemeinten Interessen dieser Bevölkerungsgruppen nur abträglich sein können.
So ist zu fragen, ob die muslimische Bevölkerung Griechisch Thrakiens ein Subjekt ist, das eigenständig handelt, oder ein Objekt, mit deren Hilfe die Türkei und Griechenland ihre Innen- und Außenpolitik betreiben. Für die Türkei, die in Istanbul zahlreiche Organisationen thrakischer Muslime unterhält und nach Kräften fördert, ist die Unterstützung ihrer Glaubensgenossen in Griechenland ein vorzügliches Instrument, um spontane oder geplante irredentistische Bewegungen mit den Muslimen Thrakiens in Gang zu setzen. Griechenland wiederum, wie die Rede des Ministerpräsidenten Andreas Papandreou am 21.2.1984 deutlich zeigte, scheut sich auch nicht davor zurück, solche „Gefahren“ zu benützen, um die Öffentlichkeit vor den wachsenden innenpolitischen Problemen seiner Regierung abzulenken.
Für die Muslime in Thrakien ist es schwierig, zwischen ihren eigenen und den ihnen aufoktroyierten Problemen seitens der Türkei und Griechenlands zu unterscheiden. Das Gemenge von tatsächlichen Problemen und Problemen, die aus der Innen- und Außenpolitik dieser beiden Ländern her rühren, bringen sie und ihre eigene Sache bestimmt nicht weiter.