Shlomo Sand: „Die Erfindung des jüdischen Volkes“

NasiChaim
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Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand (original „?מתי ואיך הומצא העם היהודי“) ist ein Buch des israelischen Historikers Shlomo Sand. Das Buch, dessen Originaltitel direkt übersetzt „Wann und wie wurde das jüdische Volk erfunden?“ lautet, löste unter anderem in Israel und Frankreich Kontroversen aus

English: Shlomo Sand

Der Jude Shlomo Sand bezeichnet sich weder als Zionist noch Anti-Zionist. Er verglich die Gründung Israels mit einer Vergewaltigung, was aber dessen Existenzrecht nicht in Frage stelle, analog dazu, wie man dies auch dem aus einer Vergewaltigung hervorgegangen Kind nicht bestreite. Ihm wurde vorgeworfen, „antisemitische“ Bestrebungen zu fördern.

 

 

Der Jude Shlomo Sand (* 10. September 1946 in Linz, Österreich) ist ein israelischer Historiker. Er lehrt an der Universität Tel Aviv.

Die ersten zwei Jahre nach seiner Geburt verbrachte der Jude Shlomo Sand mit seinen Eltern in einem Flüchtlingslager bei München. Im Jahre 1948 gelangte die Familie Sand nach JaffaIsrael. Nach dem Sechstagekrieg im Sommer 1967 war Shlomo Sand jahrelang in der anti-zionistischen Gruppierung Matzpen (Kompaß) aktiv, verließ diese aber, nachdem sie das Existenzrecht Israels angriff.

Ab Mitte der 1970er Jahre setzte der Jude Shlomo Sand seine Studien in Paris an der École des Hautes Études en Sciences Sociales bei der Historikerin Madeleine Rebérioux mit einer Magisterarbeit über Jean Jaurès fort und beendete sie mit einer Doktorarbeit über Georges Sorel. Zurück in Israel, beschäftigte sich Shlomo Sand mit der Geschichte des Kinos, der Geschichte der Intellektuellen und der Geschichte des Nationalismus, während er immer wieder Gastprofessuren an der École des Hautes Études en Sciences Sociales wahrnahm.

Zu seinen jüngsten Beschäftigungen gehört die Auseinandersetzung mit der Geschichte des jüdischen Volkes.

Jean Jaurès.

Jean Jaurès, French socialist and pacifist, murdered 31st of July 1914

Mitte der 1980er Jahre befaßte sich der Jude Shlomo Sand intensiv mit Georges Sorel und organisierte in Frankreich ein erstes Kolloquium zur Wiederbelebung der Beschäftigung mit dessen Werk. Mit dem Historiker Jacques Julliard gründete der Jude Shlomo Sand 1983 die Zeitschrift Cahiers Georges Sorel, aus denen unter Julliards Leitung 1988 die Zeitschrift Mil neuf cent. Revue d’histoire intellectuelle wurde.

Der Jude Shlomo Sand löste u.a. in Israel und Frankreich mit seinem Buch „מתי ואיך הומצא העם היהודי?“ (dt. „Wann und wie wurde das jüdische Volk erfunden?“, dt. Übersetzung des Buchs unter dem Titel Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand) Kontroversen aus. Im 2009 zur deutschen Ausgabe geschriebenen Vorwort gibt er an, „daß die Kluft zwischen meinen Forschungsergebnissen und der in Israel und anderswo verbreiteten Geschichtsauffassung erschreckend groß ist“. Dabei habe Shlomo Sand nichts anderes gemacht, als von der israelischen zionistischen Geschichtsschreibung schon lange präsentiertes, aber vergessenes Material zu verarbeiten, wobei in seiner Arbeit „nichts wirklich Neues“ erschienen sei (S. 16).

French philosopher and sociologist Georges Sor...

French philosopher and sociologist Georges Sorel (1847-1922)

Nach der Einleitung über „Identität und Gedächtnis“ lauten die Überschriften zu den fünf Kapiteln des Buches: „I. Nationen erschaffen: Souveränität und Gleichheit“; „II. Mythohistorie: Am Anfang schuf Gott die Nation“; „III. Die Erfindung des Exils: Bekehrung und Konversion“; „IV. Regionen des Schweigens: Auf der Suche nach der verlorenen (jüdischen) Zeit“; „V. ‚Wir‘ und ‚sie‘: Identitätspolitik in Israel“.

In den ersten beiden Kapiteln folgt der Jude Shlomo Sand der Kritik des Nationenbegriffs, wie sie von Karl W. DeutschErnest Gellner und Benedict Anderson entwickelt wurde. Dabei beruft sich Shlomo Sand auf ein Verständnis von Nation, wie es vor allem Ernest Renan 1882 dargelegt hat.

Wie überall im Europa des Nationalismus hätten auch jüdische Intellektuelle bezüglich der Juden eine lange gemeinsame Identitätsgeschichte konstruiert, indem sie die Bibel nicht mehr als ein theologisches Werk, sondern als ein Geschichtsbuch lasen. Die Deutschen etwa habe die nationale Suche nach Wurzeln zu Arminius geführt, die Franzosen zu Vercingetorix oder Chlodwig I.. Dieses Bedürfnis nach einer weit in die Geschichte zurückreichenden Nationalgeschichte habe auch bei Thomas Jefferson gewirkt. Während diese Gründungsgeschichten inzwischen als überwunden gelten können, findet es Sand erstaunlich, daß das für das heutige Israel nicht gelte, weil nämlich die Bibel weiter als Gründungsbuch gelesen und gedeutet werde.

Im zentralen Kapitel III weist der Jude Shlomo Sand die Auffassung vom jüdischen Exil als einer historischen Realität zurück. Dabei beruft sich Shlomo Sand vor allem auf das 1918 in New York erschienene Buch „Das Land Israel in Vergangenheit und Gegenwart“, das David Ben Gurion und Jizchak Ben Zwi auf Hebräisch schrieben, bevor sie es für das amerikanische Publikum ins Jiddische übersetzten. Bei ihnen findet sich die Überzeugung, daß die modernen Bewohner Palästinas ethnisch eng mit den verstreuten Juden verbunden seien (S. 279-283). Shlomo Sand folgert in Anlehnung an diese beiden Autoren, dass die Juden sich im Zuge natürlicher und freiwilliger Migrationen verstreut hätten. Viele Heiden im Mittelmeerraum hätten sich zum Judentum bekehrt, auch im Römischen Reich, wo sich das Christentum bald als Konkurrent etabliert habe.

In Kapitel IV. geht der Jude Shlomo Sand dem jemenitischen Königreich Himjar, den Chasaren und den Berbern im Maghreb nach; überall sei es zu Konversionen gekommen.

Shlomo Sand beendet sein Buch mit einem Plädoyer für einen Staat Israel, in dem sich die Staatsbürgerschaft nicht mehr auf die Religion bezieht und aus der Ethnokratie eine wirkliche Demokratie werde, damit Juden wie Nicht-Juden gleichberechtigt nebeneinander leben können.

In Buchbesprechungen fanden einige von Shlomo Sands Überlegungen Zustimmung, darunter seine Thesen zu den Ursachen dafür, warum viele heutige Juden nicht von solchen des biblischen Israel abstammen, für das Nichtvorhandensein gemeinsamer Sprache oder Kultur unter vielen Diaspora-Juden sowie zu Problemen der Selbstdefinition des Staates Israel (z.B. insofern Judentum definiert werde in Begriffen des traditionellen religiösen Rechts). Der Leser habe aber große Mühen, wissenschaftlich schlüssige Passagen von der Wiedergabe von Banalitäten zu unterscheiden, die als revolutionäre Einsichten ausgegeben würden, und von einem fortdauernden Einschlagen auf Türen, die schon lange offen stünden. Der genetische Befund werde beispielsweise nicht hinreichend berücksichtigt. Die Tendenz, sämtliche heutigen Juden auf Konvertiten zurückzuführen, scheitere u.a. an diesen Tatsachen. Die Rückführung der sephardischen Juden auf Berberstämme wurde als absurder Fehlschluss kritisiert.

Sands Argumentation basiert zum Teil auf Hypothesen zu den Chasaren, die bereits u. a. von Arthur Koestler in seinem Buch Der dreizehnte Stamm (The Thirteenth Tribe) vertreten wurden. Demnach seien die osteuropäischen, aschkenasischen Juden Abkömmlinge konvertierter Chasaren. Derartige Thesen sind in der Fachwissenschaft und von Journalisten vielfach als unhaltbar bezeichnet worden.

Koestler selbst war Zionist, seine Thesen wurden aber auch von Neo-Nazis, Holocaustleugnern und dem iranischen Staat propagiert. Von Journalisten und Historikern wurde eingewandt, es gebe durchaus archäologische und historische Belege für die Präsenz von Juden auch nach dem Bar-Kochba-Aufstand.

Sands Ansatz wird von einigen Kommentatoren in die konstruktivistische Wende der Nationalismusforschung eingeordnet, wie sie z.B. mit Benedict Anderson etabliert wurde, sowie in die Tendenzen der sogenannten Neuen israelischen Historiker. Sand zufolge sei der Begriff eines jüdischen Volkes eine Erfindung des Zionismus und des jüdischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts. Diese Schlußfolgerung wurde in Besprechungen als „absurd“ charakterisiert, zumal Israel bzw. das Judentum sich früh als spezifisches (auserwähltes) Volk begriffen habe; kaum irgendeine moderne Nation könne für die Konstruktion ihrer nationalen Identität bereits auf 2500 Jahre diesbezüglicher Bemühungen zurückgreifen. Daß etwa das Jüdischsein eines äthiopischen Juden im Deutschland des 19. Jh. erfunden worden wäre, sei schwerlich plausibel.

Shlomo Sand wurde vorgehalten, methodisch äußerst unsauber einzelne Zitate isoliert aus ihrem textlichen und historischen Kontext zu verwenden und für damit nicht belegbare Hypothesen zu mißbrauchen. Auch gründe der Jude Shlomo Sand seine Argumente auf die esoterischsten und kontroversesten Interpretationen. Da sich Shlomo Sand zuvor vor allem mit der marxistischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts beschäftigt hatte, wurde vielfach seine Expertise für das antike Judentum in Frage gestellt. Unter anderem wurde Shlomo Sand als Pseudo-Historiker bezeichnet, seine Monographie als Fiktion.

Für den französischen Historiker Maurice Sartre reicht es nicht, das als polemischen Essay aufgefaßte Buch wegen seiner faktischen Irrtümer in Frage zu stellen, sondern es sei zu untersuchen, ob seine allgemeinen Thesen Bestand haben. Tatsache ist für ihn, daß für die Juden wie für andere Völker des Nahen Ostens die fünf oder sechs Jahrhunderte nach der Eroberung durch Alexander den Großen eine Periode außergewöhnlicher kultureller, sozialer und religiöser Umstürze waren. Es sei eine Zeit der Öffnung und der Vermischung gewesen, aus der alle in weitem Maßstab verändert hervorgegangen seien. Die Genetik habe für diese Vorgänge noch keine Klärung gebracht. Außerdem gäbe man im Vertrauen auf ihre Ergebnisse der Stabilität des Menschen den Vorrang vor der Dauer der Kulturen. So sei etwa unklar, wie viele Juden sich im 4. Jahrhundert zum dominierenden Christentum bekehrt hätten, zumal die Vervielfältigung der Christen in Palästina nicht nur über die Bekehrung von Heiden erklärt werden könne. Hier herrsche weiter Forschungsbedarf.

Tony Judt hält fest, daß der Jude Shlomo Sand die traditionelle Rechtfertigung eines jüdischen Staates in Frage stelle. Denn das Überleben Israels beruhe nicht auf der Glaubwürdigkeit der Erzählung über seine ethnischen Ursprünge. Ein erhebliches Handicap bestehe nämlich darin, dass das Land auf der exklusiven Forderung nach einer jüdischen Identität bestehe. Dieses Insistieren führe aber dazu, dass nicht-jüdische Staatsbürger oder in Israel Ansässige zu Menschen zweiter Klasse herabgestuft würden. Denn was als „Jüdischkeit“ definiert werde, habe fatale Auswirkungen auf diejenigen, die als ihrer nicht teilhaftig angesehen werden. Die implizite Schlussfolgerung aus Sands Buch sieht Judt darin, dass Israel besser daran täte, sich als Israel zu identifizieren und sich als solches einschätzen zu lernen. Denn Staaten würden auf Grund ihrer bloßen Existenz anerkannt, solange sie sich aufrechterhalten und schützen können und deshalb zu den international akzeptierten Akteuren zählen würden.

Micha Brumlik hebt hervor, daß es Shlomo Sand um den Versuch geht, die Selbstdarstellung der Juden als eines ethnischen Kollektivs in kaum unterbrochener Kontinuität seit der augusteischen Zeit zu widerlegen. Seinen israelischen Kritikern wie Israel Bartal oder Anita Shapira sei dabei entgangen, dass Sand der zionistischen Geschichtsschreibung nicht das Verschweigen wichtiger Tatsachen anlaste, sondern seine Raffinesse vielmehr darin bestehe, „die in der Öffentlichkeit übergangenen Ergebnisse gerade auch ‚zionistischer‘ Forschung erneut zu präsentieren“. Sands Argumentation lasse keinen anderen Schluß zu, als daß das Narrativ von Vertreibung und Wiederheimführung, wie es die Proklamationsurkunde des Staates Israel vom 15. Mai 1948 enthalte, ein „geschichtsmächtiger Mythos“ sei, „der aber mit der realen Geschichte der Juden nichts zu tun hat“. Indem Shlomo Sand zwischen Ethnos als Herkunfts- und Abstammungsgemeinschaft und Demos als freiwilligem Zusammenschluss von Bürgern zur Gründung eines freien politischen Gemeinwesens unterscheide, trete er für ein Israel als Staat aller seiner Bürger ein: „Wenn es die historische Abstammungsgemeinschaft nicht gibt, hatte die Unabhängigkeitserklärung unrecht und der zionistische Staat keinen historischen Grund mehr.“

Für Klaus Bringmann liest sich in der am 13. April 2010 in der Süddeutschen Zeitung erschienenen Rezension das Buch „als ein historisches Werk und zugleich als Generalangriff auf das zionistische Nationalbewusstsein in therapeutischer Absicht“. Denn 25 Prozent der nominellen Staatsbürger Israels bestünden aus Bürgern zweiter Klasse, denen gemäß der Vorschrift des Religionsgesetzes als Abkömmlingen nichtjüdischer Mütter die Anerkennung als Juden verweigert werde. Nach Shlomo Sands Vorstellung seien sie jedoch in den gemeinsamen demokratischen Staat zu integrieren. Diese Absicht führe zu einem „alarmistischen Ton“, in dem Sand zur Umkehr aus einer Sackgasse aufrufe, in die er sein Land geraten sieht.

Die historische Ableitung seiner Thesen überzeugt Bringmann. Denn das Judentum sei eine erfolgreich missionierende Religion gewesen, weil in seinem Monotheismus die Religion ethisiert worden sei und zu sozialer Fürsorge angeleitet habe, was auf das heidnische Umfeld anziehend gewirkt habe. So spreche „viel für die These, dass die Mehrheit der Jiddisch sprechenden Juden Osteuropas Nachkommen der chasarischen Konvertiten waren“. Bringmann stimmt deshalb Shlomo Sand zu, wenn dieser feststellt, dass die heutigen Juden in keinem historischen, sondern höchstens in einem symbolischen Sinn eine Abstammungsgesellschaft in der Nachfolge der alten Judäer sein können. Sand stelle das sinnstiftende zionistische Geschichtsbild „radikal, kenntnisreich und mit großem Mut“ in Frage, woraus die in Israel ausgelösten Irritationen verständlich würden.

Der Jude Shlomo Sand verteidigt seine Thesen in einem Interview mit dem Aufbau im Mai 2010. Ein angefügter Artikel von Jörg Bremer zeigt in seinem Sinne, daß es keine archäologischen Beweise für ein „Reich Davids“ gibt, wie es der israelische Staats-Mythos behauptet.

Ein Forscherteam um den Genetiker Harry Ostrer von der School of Medicine an der New York University veröffentlichte im Juni 2010 eine Studie, die zum Ergebnis kam, daß die verschiedenen Gruppen der Diasporajuden gemeinsame genetische Merkmale aufweisen, was als Widerlegung der Thesen Sands gewertet wurde. Der amerikanische Genetiker Noah Rosenberg kam zu einer vorsichtigeren Einschätzung: Die Chasaren-Theorie werde von dieser Studie weder gestützt noch vollständig zu Fall gebracht.

Quelle: https://einflussreicheleute.wordpress.com/2011/12/05/shlomo-sand-die-erfindung-des-judischen-volkes/

NasiChaim  13. Januar 2018
Rubrik: Publikationen

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