Über die Russenpeitsche, die byzantinische Finsternis und das Rätsel der russischen Seele

Günther Hirsch
Bild © gemeinfrei

Zwischen Russophilie und Russophobie. Die Geschichte des Russlandbildes im Westen, Teil 4

 

Weitere Teile dieser Serie:

Teil I – Das neue Russland-Feinbild,

Teil II – Russland als Alter-Ego des Westens,

Teil III – Russlands blutige Geschichte und das Erbe des Römischen Weltreichs

Teil IV – Moskau als „Drittes Rom“ und Putin als Synonym für Russland

Nach dem Fall Konstantinopels bestand die Byzantinisch-Orthodoxe Kirche fort in den Gebieten nördlich des Marmarameeres und des Schwarzen Meeres. Aufgebaut wurde sie in der Rus, nachdem Großfürst Wladimir I., Herrscher der Kiewer Rus, 988 die Taufe empfangen und die byzantinische Prinzessin Anna Porphyrogenneta geehelicht hatte. Die ersten Metropoliten kamen noch aus Griechenland und Bulgarien. Ihr Sitz war zunächst Kiew, ab 1299 de-facto in Wladimir und ab 1325 dann offiziell Moskau. Die Orthodoxen Metropoliten empfanden sich hier, im neuen Land, gleichsam als die Jüdischen Stämme im Exodus. Die Bezeichnung Moskaus als „Drittes Rom“ wurde im 16. Jahrhundert geprägt. Ursprünglich war das Konzept vom „Dritten Rom“ weniger imperial als vielmehr apokalyptisch zu verstehen.

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Schon in der Zeit des Morgenländischen Schismas um 1050 setzte im Westen eine Geschichtsschreibung ein, die, nach mehreren gescheiterten Konzilen, auf denen die Gesandten Roms und die byzantinischen Patriarchen sich gegenseitig Exkommunizierten oder mit einem Bann belegten, alles Byzantinische in finstersten Bildern zeichnete.

Die Idee, Moskau als Erbe Konstantinopels und somit als Drittes Rom zu betrachten, rief natürlich den Zorn der Römischen Kirche hervor und in der Folgezeit entstanden daraus unaufhörliche neue ideologische und territoriale Streitigkeiten.

Stereotypen russophober Publizistik setzten sich im 16. Jahrhundert während der Livländischen Kriege vor allem in Polen fort. Negativ konnotierte Beschreibungen schafften ein Bild der Abgrenzung und schufen in der Dichotomie Russland/Europa jene Selbst- und Fremdbilder, die bis heute nachwirken.

Die Angst der Schweden, Polen und Litauer, die seit dem 13. Jahrhundert ebenso das Erbe der Kiewer Rus für sich beanspruchten, vor russischer Expansion, veranlasste schon damals die Beschwörung heftiger Bedrohungsszenarien im Kampf des Deutschen Ordens gegen die Schismatiker im Osten und diente später, im 16 Jh., zur Vorbereitung der Livländischen Kriege. In der Livländischen Reimchronik bereits wurden die Russen als Ungläubige bezeichnet, die die Ländereien der Christen plünderten. Polen waren es auch, die das Testament Zar Peter des Großen fälschten, um diesem eine panslawische Verschwörung zu unterstellen (vgl. Hannes Hofbauer, Feindbild Russland, Seite 34). Die Moskowiter seien die Feinde des Christentums und hätten sich mit den Türken und Tartaren verschworen, um das Christentum zu zerstören, schrieb König Sigismund I. von Polen um 1515 an die europäischen Herrscher und den Papst, um damit antirussische Allianzen zu schmieden.

Geopolitik europäischer Großmächte

Im 19. Jahrhundert kamen antirussische Anschauungen besonders in Frankreich auf. Während die europäische Aufklärung insgesamt ein positives Verhältnis zu Russland hatte, betrachtete Napoléon Bonaparte die Russen als rückständige Barbaren, die, laut Wikipedia, „seinen liberalen und revolutionären Ideen im Wege stünden. Einige Historiker fassen die Respektlosigkeit französischer Soldaten während des Russlandfeldzugs 1812 gegenüber der russischen Zivilbevölkerung und Kultur als Beleg für eine frühe Form rassischer Ressentiments auf“.

Es waren schon immer geostrategische Interessen, anfangs die zwischen dem West- und dem Oströmischen Reich. Jedoch wurden diese auch schon immer ideologisch stark aufgeladen und gehen zurück auf gezielte Feindbildgenese und ein tiefes Unverständnis, durch zahlreiche Manipulationen und Fälschungen der eigenen, westlichen Geschichtsschreibung.

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Während in der Folgezeit Frankreich, Preußen oder die Habsburger mehrfach wechselnde Allianzen mit Russland eingingen, um sich der Osmanen zu erwehren, kennt die Britische Krone Russland nahezu durchgehend in ihrer Geschichte nur als Gegner.

Schon im Jahr 1850 gelang es dem Britischen Empire selbst bei der Neuseeländischen Regierung eine sehr real erscheinende russische Angriffshysterie zu schüren. Als „Russian scare“ wurde in Neuseeland die Furcht vor einer russischen Invasion bezeichnet. Sie führte zur Errichtung zahlreicher Küstenverteidigungsbollwerke, auf die nie ein Gegner traf. Große Medien und auch die angelsächsische Kriegsindustrie spielten in ihrer Falschinformation mit den Ängsten der Bevölkerung und steigerten damit ihre Umsätze enorm.

Diese Strategie gehörte zum „Great Game“, welches den historischen Konflikt zwischen dem britischen Empire und Russland um die Vorherrschaft in Zentralasien, Arabien und anderen Gebieten bezeichnet. Er dauerte seit 1813 und setzt sich über die USA bis heute fort.

Psychologische Kriegsführung ist also keine Erfindung der Neuzeit. Das Schüren der Angst vor dem Russen hat eine sehr lange Tradition, nicht erst seit den immer wieder in der Presse, aber nie wirklich vor der schwedischen Küste aufgetauchten russischen U-Booten, welche sich im Nachhinein meist als italienische, britische oder amerikanische herausstellten.

So geschürte Vorurteile, beruhend auf xenophoben Kodifizierungen, mythogenen Begründungen und medialen Fälschungen, können sich im gesellschaftlichen Bewusstsein sehr tief und über Jahrhunderte eingraben.

Am 03.05.2014, einen Tag nach dem Massaker in Odessa, als der Reporter von Phoenix sich anlässlich des Hamburger Hafengeburtstags mit einer Sprecherin der AIDA Reederei unterhält, welche auch Odessa anläuft, stellt er der Interviewten die Frage: „Dieser Angriff in dem Gewerkschaftshaus – was hat sich Putin wohl dabei wieder gedacht?“

Zu diesem Zeitpunkt war nach offizieller deutscher Nachrichtenlage nichts weiter bekannt, als dass es einen Brand und einen Zusammenstoß mit vielen Toten im Odessaer Gewerkschaftshaus gegeben hatte. Zwar konnte man im Internet das Massaker der ukrainischen Nationalisten an den gegen die Kiewer Putschregierung demonstrierenden fast live verfolgen und auf russischen Kanälen auch genauere Informationen einholen – aber zu dieser Zeit sprach die Tagesschau lapidar nur von der Tragödie irgendeines Brandes.

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Soviel Meinung des Phoenix Korrespondenten bei – angesichts der offiziellen Nachrichtenlage an diesem Tag – so wenig Tatsachenkenntnis, gibt ein Beispiel grundsätzlich bösgläubiger Interpretation aus purer, stark internalisierter und zur Obsession gewordener „russischer Schuld“ und „Aggression“.

Sehr viel Meinung bei sehr wenig Lageinformation und eine angesichts falscher Toter und falscher Täter daraus erwachsende erhebliche kognitive Dissonanz erlebten wir auch anlässlich einer Eilmeldung der RTL News am Tag, als der angeblich in Kiew „von Putin“ ermordete Journalist Arkadi Babtschenko plötzlich lebend vor der Weltpresse erschien um zu erklären, dass sein Tod nur eine geheimdienstliche Eigeninszenierung gewesen sei, um Russland einer Mordabsicht zu überführen. Nach dessen bizarrem und denkwürdigem Auftritt sagte der live aus Kiew zugeschaltete RTL-Korrespondent: Das sei alles sehr merkwürdig. Aber man munkele schon lange, dass der russische Geheimdienst den ukrainischen unterwandert habe. Anders könne er sich das Ganze nicht erklären.

Auskunft über tiefsitzende xenophobe Schemata Russland gegenüber gibt selbst Markus Lanz, der während seiner Sendung in einem Gespräch mit dem in der DDR aufgewachsenen Profihandballer Stefan Kretzschmar diesen nach seinen ersten Eindrücken mit Sportlern aus dem Westen befragt. Als Kretzschmar von seinem „Klassenfeindbild“, seinen einstigen Vorurteilen und seiner Manipuliertheit spricht, warf Lanz ein: „Das kann ich gut verstehen. Wir im Westen waren nicht weniger indoktriniert. Ich erinnere mich, wie ich als Kind an der Bobrennbahn stand in Südtirol und es hieß, da starte ein Russe. Das war für mich der Satan persönlich.“

Wenn es um Russland geht, kann die Berichterstattung deutscher und westlicher Medien bisweilen monströse, hysterische und zuweilen auch bizarre Züge annehmen. US-Senatoren und ein Teil der Presse fordern nun, den Fußball, welchen Putin anlässlich seines Helsinkier Treffens mit Trump diesem als Gastgeschenk übergeben hat, auf darin versteckte Chips oder geheime Waffen zu untersuchen.

„Tierschützer entsetzt. Putin züchtet sich Killerdelphine“, schreibt nicht nur der Focus im März 2016. Putin ließe in Sewastopol Delphine darauf trainieren, mit Harpunen auf dem Rücken auf die Jagd nach Kampftauchern zu gehen und bereite sie auf noch grausamere Einsätze vor.

Das Programm, Delphine für militärische Zwecke, zum Mienenräumen oder zum Melden von Eindringlingen in militärische Gewässer auszubilden, wurde allerdings in den USA erfunden und gab es dort schon sehr viel länger. Seit den 1970er Jahren hatte in Sewastopol ein solches Programm auch die Sowjetunion. Nach deren Zusammenbruch fiel das Projekt an die Ukraine, die es nicht mehr finanzieren konnte und einen Großteil der Delphine in die Türkei verkaufte, wo diese dann der Touristenbespaßung dienten. Das sind die Tatsachen, ungeachtet derer es den Schreibern des Focus, der Bild, des Telegraph u.a. aber nicht zu peinlich ist, Russland daraus einen weiteren Skandal politisch-moralischer Verderbtheit zu konstruieren.

Natürlich sind es ebenso wenig Putins Delphine, wie die amerikanischen Trumps Delphine sind. Aufmerksamkeitsökonomisch macht die Personalisierung aber Sinn: sie vereinfacht den Schreibern in den Medien die Arbeit und vermeidet die Schau komplexerer Zusammenhänge.

Putin als Synonym für Russland

Während Putin und Russland dabei synonym erscheinen, erweist sich bei näherem Hinsehen diese Gleichsetzung als manifeste Russophobie. Despektierliche Aussagen über Putin färben zwangsläufig immer auch das Bild vom Russen als solchen. Autoritätsgehabe, machiavellistische Züge, Homophobie, oder eine gewisse überbetonte Männlichkeit, welchen man in Putin projiziert, werden zum Nationalcharakter der Russen, einfach deshalb, weil diese in übergroßer Mehrheit Putin immer wieder wählten und auch bei Umfragen sich stets mehrheitlich anerkennend über ihn äußern. Das virile Selbstbild, welches man Putin mit seinen oben-ohne-Fotos zuschreibt, findet ja offenbar Anklang in der Bevölkerung. Also richtet sich die Kritik daran, selbst wenn sie gegen Putin vorgebracht wird, vor allem gegen den chauvinistischen, machtverliebten, homophoben Russen und soll uns auf diese Weise immer auch etwas über den russischen Gemütszustand sagen.

Bildquelle: Screenshot CBSMehr lesen:Putin im Interview: „Bei uns gibt es keine Obsession, dass Russland eine Supermacht sein muss“

Geschichte wiederholt sich. Polen und Balten beschwören, um westliche Allianzen werbend, wieder ein finsteres, bedrohliches Russland in einem absurd erscheinenden Angriffsszenario und bedienen sich dabei auch grober Geschichtsumschreibungen, wie der des ukrainischen Ministerpräsidenten Arsenij Jazenjuk, als dieser, vor der Aggression Russlands warnend, im Januar 2015 im Heute Journal von der Invasion der Roten Armee in Deutschland und der Ukraine während des Zweiten Weltkrieges sprach, oder der des polnischen Verteidigungsministers, welcher die Sowjetunion für den Holocaust mitverantwortlich machte.

Und Geschichte hinterlässt Narben. Die geopolitisch utilisierte Kulturgrenze zwischen den Antipoden des Westlichen und des Östlichen Römischen Reiches ist bis heute in die Landkarten Europas eingraviert. Europa ist bis heute exakt an der vom Baltikum mitten durch die Ukraine, bis hin zum Marmarameer verlaufenden Grenze zerschnitten, welche die Ordensritter hinterlassen haben, als sie einen Teil der Östlichen Kirchen Litauens, Polens und Galiziens der Römische Kurie mit Gewalt, Intrige und Erpressung einverleibten. Als die Ritter des Deutschen Ordens Teile der Orthodoxen Kirchen gewaltsam zur Unierung zwangen, taten sie genau das, was schon 1904 in der „Heartland-Theorie“ von Halford Mackinder und rund 100 Jahre später noch einmal von Zbigniew Brzezinski im „Grand Chessboard“ beschrieben wurde: nämlich das Herausreißen wichtiger Gebiete aus Russlands empfindlichem Unterbauch.

Das ewige Östliche Reich des Bösen – und die „zivilisierende“ Rolle des Westens

Auch der in Russland-Fragen bei Wikipedia bevorzugt zitierte Politikwissenschaftler Jörg Himmelreich bringt Byzanz, die Sowjetunion und Putin in eine historische Linie, wenn er darauf hinweist, dass „das Verständnis der russischen Geschichte als fortlaufender Teil der Heilsgeschichte die politischen Systeme nicht nur des Zarenreiches, sondern auch der Sowjetunion geprägt habe und mit der Herrschaft Wladimir Putins stärker denn je das russische Staatsdenken prägt“.

Deutlicher als in diesem Text von Jörg Himmelreich kann man kaum ausdrücken, wie sehr immer noch das alte Schismatische Erbe nachwirkt. Und es erklärt vielleicht auch die quasi-religiöse Emphase des Russlandhasses, wenn er ausführt: „Wie in der jahrhundertelangen Vergangenheit ist die orthodoxe Kirche auch heute wieder Dienerin ihres Herrn. Diese jahrhundertealte Staatsideologie der orthodoxen Kirche ist tief in die russische Herrschaftspsychologie eingraviert (…). Selbst der Sowjetkommunismus trug orthodoxe Herrschaftsmerkmale. Er war am Ende nichts Anderes als eine ins Weltlich-Politische verwandelte irdische Ideologie der russischen Orthodoxie (…). Die messianische Heilserwartung des ‚Dritten Rom‘ entspricht dem weltlichen Befreiungsgedanken der kommunistischen Ideologie. Als ‚letztes Rom‘ der Christenheit allein im Besitz der letzten absoluten Wahrheit zu sein, verweist auf den totalitären Anspruch des Sowjetkommunismus. (…) Orthodoxie und Sowjetkommunismus bilden als Zwillingspaar über ein Jahrtausend hinweg die wesentliche Legitimationsquelle russischer Autokratie und russischer Expansion. (…) So bildet die historische, orthodoxe Herrschaftsideologie auch heute wieder den Goldgrund für Putins autokratisches Regime und seinen wiederbelebten russischen Expansionismus.“

Der Historiker bringt das byzantinisch-orthodoxe Erbe mit dem Sowjetkommunismus, gar bis hin zu Putin in eine kontinuierliche, historisch-kausale Linie und bedient sich dabei jenes finsteren Narratives vom Östlichen Reich des Bösen, indem er selbst Putin zum byzantinischen Wiedergänger macht. Das verbindende Element zwischen der Orthodoxie und dem Sowjetkommunismus mag am ehesten bestehen in den Ideen vom Gemeinsinn und in einem gewissen „Cäsaropapismus“, welcher im Westen keine Entsprechung hat. Alles andere, oben Unterstellte aber ist bis heute andauernde westliche Geschichtsfälschung, mit der uns hier ein „aufgeklärter Katholizismus“ über die „barbarische Welt der Orthodoxie“ belehrt.

Die Eigenschaft des Christentums, in diesem Fall des Orthodoxen, als „tief eingravierte Staatsideologie“ zu beklagen, ist angesichts dessen staatsprägender Tradition im Westen recht vorwitzig und wahrlich kein Alleinstellungsmerkmal Russlands. Das Heilige Römische Reich (Deutscher Nation) bestand immerhin bis ins Jahr 1806.

Sich „im Besitz der letzten absoluten Wahrheit“ zu glauben, ist wohl auch eher das Merkmal eines seit jeher gewaltsam missionierenden Westens, welcher sich mit seinem weltweiten Informationsmonopol selbst die einzige zivilisierende Rolle über den Erdball zuschreibt.

Und das Ursprungsland eines „weltlichen Befreiungsgedankens“ kennen wir seit den vom Westen ausgeschickten Ordensrittern, seit der „Herzlandtheorie“ und seit dem „Great Game“, bis hin zur „Lebensraumgewinnung im Osten“. Schon ein Blick auf die Landkarten der letzten 150 Jahre straft den Historiker Lügen: Expandiert sind immer nur die westlichen Reiche. Russland hingegen hat mit Abermillionen Menschenleben Europa drei Mal gerettet: einmal vor den Osmanen (vgl. Hannes Hofbauer, Feindbild Russland, Seite 22), einmal vor Napoleon und ein drittes Mal vor dem Faschismus. Das ist die tatsächliche Geschichte.

Günther Hirsch  30. August 2018
Rubrik: Kirchen/Religion

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