Ob Awaren oder Slawen, Byzantiner oder Venezianer, Griechen oder Türken, Christen, Muslime oder Juden – Thessaloniki war in seiner Geschichte nie eine Stadt, die einer einzigen Kultur zuzuordnen war. Nachdem die Griechen am 26. Oktober 1912 den Ort erobert hatten, verwandelte er sich in eine Bastion der Homogenität.
Ich finde es ärgerlich, dass die Autorin die Stadt nicht Thessaloniki, sondern Saloniki nennt. Und daß in ihrem Saloniki früher nur Christen, Juden und Muslime gelebt haben sollen, ohne die Christen zu differenzieren. Außerdem: Hätte sie mitgekriegt, dass der Terminus Türke und Türkei im Osmanischen Reich unbekannt war, würde sie nicht von einem türkischen Kaffeehaus in der noch osmanischen Stadt schreiben (im Text unter dem Foto). Wahrscheinlich vergessen hat sie auch zu erwähnen, dass auch die deutsche Wehrmacht in der Stadt war, wie die Panzer unter dem Galeriusbogen dokumentieren. Alles in Allem: Was will uns Frau Barbara Spengler-Axiopoulos mit ihrer recht ahistorischen Geschichte genau sagen?
Emmanuel Sarides
Einst ein Kaleidoskop von Kulturen, Religionen und Trachten, dann eine Bastion der Homogenität. – Türkisches Kaffeehaus in Saloniki, um 1920. (Bild: Ullstein)
Was ihn an seine Heimatstadt Saloniki binde, seien nicht der Weisse Turm oder die Byzantinische Stadtmauer, sagt der alte Poet. So etwas sei ihm völlig gleichgültig. Seine Gefühle für diese Stadt seien tiefer und elementarer. Seine Mutter habe ihm, einem Mantra gleich, immer wieder gepredigt, er müsse diese Stadt lieben, weil sie ihn aufgenommen habe. «Wenn man so etwas andauernd hört, glaubt man es am Ende selbst.» Bettelarme Flüchtlinge seien sie gewesen, aus dem alten Konstantinopel mit nur vier Stühlen kommend in den zwanziger Jahren. Der 80-jährige Dinos Christianopoulos gehört zu den grossen Dichtern Griechenlands. Alle Preise, die ihm verliehen wurden, hat er abgelehnt, ebenso wie verlockende Angebote, in Athen zu leben. Christianopoulos ist bekennender Homosexueller und für seine bissigen Kommentare gefürchtet. In unzähligen Gedichten hat er eine innere Topografie seiner Heimatstadt entworfen.
Verwirrlich viele Namen
Auf den Märkten und engen Gassen Thessalonikis trifft man noch heute auf orientalisches Flair. Hier ein alter Brunnen aus osmanischer Zeit, dort das Grab eines muslimischen Heiligen. Eine letzte Synagoge ist geblieben. Städte sind Orte der Zuflucht, aber auch der Vertreibung. Dass in dieser einmaligen europäischen Stadt 500 Jahre lang Christen, Juden und Muslime miteinander lebten, sieht man ihr nicht mehr an. Die Stadt, die endlose Metamorphosen durchlebte, feiert am 26. Oktober ihren hundertsten griechischen Geburtstag. Immer wieder wurde sie zur Heimat von Flüchtlingen, für sephardische Juden und Pontusgriechen, für Armenier und Christen aus Kleinasien. «Hauptstadt der Flüchtlinge» nannte sie ein anderer Dichter, der inzwischen verstorbene Giorgios Ioannou.
Die vielen Namen, die sie führte, stifteten Verwirrung. Salonicco, Selanik, Salun, Salonicha oder Salonique? Allein im Mittelalter existierten unzählige Namensvarianten, eine Freude für Sprachforscher und ein Albtraum für Kartografen. Als die griechischen Truppen Saloniki am 26. Oktober 1912 während der Balkankriege zurückeroberten, setzte die neue Verwaltung der babylonischen Vielfalt ein Ende und machte aus dem judenspanischen Salonicco und dem türkischen Selanik ein griechisches Thessaloniki. In einem radikalen Schnitt knüpfte sie an die griechische Antike an und löschte die vorherige Stadtgeschichte aus. 315 v. Chr. hatte der mazedonische König Kassandros die Stadt nach seiner Frau Thessaloníke genannt, einer Schwester Alexanders des Grossen.
«1912 war Thessaloniki eines gewiss nicht, griechisch», sagt die Historikerin Rena Molho. Was ihre kulturelle Prägung betrifft, sei dies eine jüdische Stadt gewesen, alle Arbeiter im Hafen und alle Händler auf dem Markt seien Juden gewesen. Bis 1923 war der Hafen samstags geschlossen, weil alle Schauerleute Juden waren. Die 65-jährige Rena Molho ist stolze Nachfahrin jener Sepharden, die Spanien Ende des 15. Jahrhunderts verlassen mussten. Hunderttausende von ihnen wurden im Osmanischen Reich aufgenommen, und Saloniki wurde «das kleine Jerusalem an der Ägäis».
Bei einer Stadtführung für Studenten der Columbia University erklärt Rena Molho, dass hier in Saloniki nach der Revolution der Jungtürken der jüdische Sozialist und Arbeiterführer Awraam Benaroya 1908 zu den Menschen auf Judenspanisch gesprochen habe: «. . . Mirando que semos 300 miliones leones!» Wir sind 300 Millionen! Und er meinte damit, wie viele mehr von ihnen es gebe als hier auf diesem Platz. Rena Molho ist eine mutige und ungewöhnliche Frau, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, die jüdische Geschichte ihrer Heimatstadt zu erforschen. Dass ihre Veröffentlichungen hier nicht beachtet wurden, hat sie nicht daran gehindert, ihren Weg zu gehen. «Ich bin hier eine prominente Aussenseiterin.»
Als Saloniki wieder griechisch wurde, war eine polyglotte, orientalische Lebenswelt mit kosmopolitischem Zauber in Auflösung begriffen. In über dreissig Synagogen verbrachten die Rabbiner ihre Tage damit, sich über die Heiligen Schriften und den Talmud zu beugen. Jeder Bewohner sah anders aus. Stark verhüllte Musliminnen drängten sich an schwarz gekleidete Nonnen. Die Kopfbedeckungen orthodoxer Popen sahen wie Ofenrohre aus. Der weisse Turban der Imame hob sich ab von den grün plissierten Kappen des Bektaschi-Ordens und den hohen, sandfarbenen Kegelhüten der Derwische. Die spitze, mit einem Schleierchen umhüllte Haube armenischer Priester korrespondierte mit Bowlerhüten, Offiziersmützen und roten Fezen. Über dieses Kaleidoskop von Menschen, Religionen und Trachten staunten nur Bauern aus dem Umland und Europäer, die zu Besuch kamen. Für die Bewohner der Stadt war es normal. 1913 schrieb ein griechischer Offizier, der länger in Saloniki stationiert war, an seine Frau: «Wie kann man eine Stadt mit so einer kosmopolitischen Bevölkerung mögen, von denen neun Zehntel Juden sind? Sie hat überhaupt nichts Griechisches an sich, auch nichts Europäisches. Sie hat gar nichts.»
Kann man die Kontinuitäten der Stadt mit den Deportationen, Genoziden, Vertreibungen und Zwangsumsiedlungen, die hier stattfanden, in Einklang bringen? Mark Mazower, der ein fulminantes Buch über die verborgene Geschichte Salonikis geschrieben hat, betont, wie sehr die Stadt unter der Gewalt gelitten habe, die ihre Eingliederung in den griechischen Nationalstaat 1912 mit sich gebracht habe. Dass dies einmal eine Stadt des Osmanischen Reiches war, wurde vergessen. Vergessen wurde auch, dass es in Saloniki über dreissig Derwisch-Klöster und Orden gab. Es war ausgerechnet eine Gruppe von 10 000 Konvertiten, Sepharden, die zum Islam übergetreten waren, die Dönme oder die Ma’min, wie sie sich selber nannten, die sich für europäische Philosophie und Politik interessierten. Sie machten im 19. Jahrhundert aus Saloniki eine der liberalsten und progressivsten Städte des Osmanischen Reiches. Das Jení Tzamí, früher Moschee und heute archäologisches Museum, ist eines der wenigen Relikte, das von den Ma’min übrig geblieben ist. Als Saloniki griechisch wurde, wurde dieser vielgestaltige Kosmos in eine Bastion der Homogenität umgeschliffen. «Das Vergessen der osmanischen Zeit war der Preis für die Modernisierung der Stadt», schreibt Mazower.
Leon Sciaky, ein junger Jude, der in den zwanziger Jahren mit seinen Eltern in die USA auswanderte, hat diese Zeit noch miterlebt. Er besuchte 1904 das erste französische Privatgymnasium, das die kosmopolitische Elite der Stadt in Miniaturausprägung repräsentierte. In seinen Memoiren schreibt er: «Die untere Klasse, in die ich eingestuft wurde, bestand aus drei Franzosen, einem Griechen, vier spanischen Juden, einem Serben, einem Ma’min, einem Armenier, einem Türken und einem Montenegriner, der extra aus Cetinje gekommen war, um unsere Schule zu besuchen.»
Das Geburtshaus eines türkischen Schülers, der von seinem ehrgeizigen Vater Ali Riza in diesen Jahren auf die erste muslimische Privatschule geschickt wurde, ist heute das am besten erhaltene osmanische Haus in Thessaloniki und ein Museum. Das Schulabgangszeugnis von Mustafa Kemal, später Atatürk genannt, hängt hier, noch in arabischer Schrift.
Die Krise und ihre Lehre
«Die Bürger Salonikis kennen die Geschichte ihrer Stadt nicht. Wenn man seine Stadt nicht kennt, kann man sie auch nicht lieben.» Das sagt ein Mann, den viele für den aussergewöhnlichsten Politiker Griechenlands halten. Er selbst besteht darauf, keiner zu sein. Früher war er Unternehmer und Winzer, und seit eineinhalb Jahren ist der parteilose Jannis Boutaris Bürgermeister von Thessaloniki. Er ist ein schmaler, energiegeladener Mann von siebzig Jahren, der sich im Andenken an seine verstorbene Frau eine Eidechse auf die Hand tätowieren liess. Neben den drängenden Alltagsgeschäften, die ein Bürgermeister hat, hat er es sich zur Aufgabe gemacht, die Bürger von Saloniki mit ihrer historischen Identität zu konfrontieren. Er hat nicht nur die marode Stadtkasse saniert, sondern dazu beigetragen, dass Thessaloniki, bisher kaum als Touristenanziehungspunkt bekannt, 2011 von 50 000 Türken und 70 000 jüdischen Besuchern aus aller Welt aufgesucht wurde.
Dass Kemal Atatürk in Saloniki geboren wurde und dass bis zum Zweiten Weltkrieg hier 50 000 Juden lebten, wissen die wenigsten Bürger der Stadt. Es sei bisher ein Tabu gewesen, um Türken und Israeli zu werben, sagt Boutaris. Er will dafür sorgen, dass an der heutigen Aristoteles-Universität eine Gedenktafel angebracht wird, die daran erinnert, dass sich hier einmal der riesige jüdische Friedhof ausdehnte. Zur Neugestaltung der «Plateia Eleftherías», des «Platzes der Freiheit», heute ein Parkplatz, liess er einen Wettbewerb ausschreiben. Von hier ging 1908 die Revolution der Jungtürken aus. Hier wurden auch die Juden im Sommer 1942 zur Zwangsarbeit eingezogen. Diese historischen Ereignisse, sagt der Bürgermeister, könne man nicht vernachlässigen. «Wir machen das nicht nur für Ausländer und Touristen, sondern vor allem für die Bürger Salonikis.»
Den amerikanischen Studenten beschreibt Rena Molho jenen heissen Hochsommertag: « Sie waren der Julisonne ausgesetzt, in der sie stundenlang stehen mussten. Sie durften weder eine Kopfbedeckung tragen noch Wasser trinken.» Und keiner der christlichen Mitbürger, fügt sie hinzu, sei ihnen zu Hilfe gekommen. Der alte Dichter hat alles miterlebt. Das Flüchtlingsdasein, die Besatzung der Deutschen, den Abschied der Juden, die Armut, das Elend und jenen schlimmen Hungerwinter 1941. In jenen Tagen sei es so gewesen, erinnert sich Dinos Christianopoulos, dass alle Hungernden, die gewusst hätten, dass sie die Nacht nicht überleben würden, sich in einem Eckchen in seiner Nachbarschaft versammelt hätten. Und warum? Weil um Mitternacht der Leichenwagen der Stadt vorbeigefahren kam und die Toten einsammelte. «Sie blieben einfach in der klirrenden Kälte auf dem Bürgersteig stehen. Und am nächsten Morgen waren sie verschwunden.»
Erinnerungen, denen sich nicht jeder aussetzen will, und eine Krise, die in allen Bereichen des privaten und öffentlichen Lebens spürbar ist. Wie werden die Bürger der Stadt den griechischen «Geburtstag» Salonikis begehen? Bürgermeister Boutaris winkt ab. Er setzt auf lange wirkende Stadtentwicklungs- und Jugendarbeitsprojekte, nicht auf spektakuläre Feiern. Für die gebe es weder Geld noch einen Grund. Rena Molho aber fragt sich, wer eigentlich feiert. Die, die am schwersten arbeiteten in Saloniki und ganz Griechenland, seien die Migranten. Ob diese zusammen mit den Bürgern Salonikis feiern, weiss sie nicht. Und sie fügt hinzu, dass sich die Mentalität der Griechen ändern müsse, wenn sie in dieser Krise bestehen wollten. «Sie müssen lernen, sich mit der Denkweise anderer Kulturen auseinanderzusetzen.»
Barbara Spengler-Axiopoulos lebt als Publizistin mit Schwerpunkt Griechenland in Heidelberg.
Quelle: https://www.nzz.ch/feuilleton/vor-100-jahren-wurde-thessaloniki-griechisch-1.17737294